«Selbst in ei­nem klei­nen Berg­dorf kann ex­pe­ri­men­tiert wer­den»

Interviewreihe zum Prix de Genève, letzter Teil: Architekt Julien Grisel, Partner im Büro bunq architectes und Mitglied der Jury, zeichnet ein prägnantes Porträt der aktuellen experimentellen Ansätze.

Date de publication
18-06-2019

TRACÉS: Herr Grisel, der Schlüsselbegriff dieses neuen Preises lautet «Experimentieren». In der Geschichte der Architektur ist die Idee des Experimentierens mit bestimmten Architekten oder bemerkenswerten Leistungen verbunden, die zur Avantgarde zählen. Was bedeutet dieses Wort Ihrer Meinung nach im aktuellen Kontext?

Julien Grisel: Das Experimentieren in der Architektur beginnt in dem Moment, in dem wir versuchen, anstelle einer vorgefertigten Lösung eine spe­zielle Antwort auf eine Situation oder ein bestimmtes Problem zu geben. Das kann in vielerlei Zusammenhängen passieren. 

Ein experimenteller Ansatz kann beispielsweise Prinzipien vorschlagen, die auf die Verdichtung von Städten im Hinblick auf die Gesamtsituation der Gesellschaft abzielen. Ich denke da an einige Projekte, die von Genossenschaften wie Kraftwerk 1 in Zürich durchgeführt werden. Am anderen Ende des Spektrums ist auch das Interesse an der kontrollierten Erosion einer Lehmfassade, wie sie Roger Boltshauser beim Haus Rauch geschehen liess, eine experimentelle Arbeit.

Die eigentliche Frage wäre: Was ist der Zweck des Experiments? Was ist seine heuristische Reichweite? Und in welchen Themenfeldern kann es zusätzliches Wissen oder einen Mehrwert generieren? Unsere Disziplin hat die Besonderheit, mit vielen anderen Fachgebieten in Verbindung zu stehen, ohne ihnen unterworfen zu sein. Der Architekt übernimmt die Rolle eines aufgeklärten Amateurs und kann zwischen Bereichen vermitteln, die nicht oder nicht mehr miteinander kommuniziert haben.

So kann das Experimentieren mit verschiedenen wichtigen Themen unserer Gesellschaft verknüpft werden. Die Frage nach den Umweltauswirkungen von Gebäuden ist hierbei eine der wichtigsten. Diskurse zu diesem Thema werden dann interessant, wenn man über die rein technischen und norma­tiven Frage hinausgeht. Besonders spannend finde ich das Bürgerzentrum «Cristalleries Planell»: Das Projekt kombiniert die Umwandlung eines historischen Gebäudes zu einem Quartierszentrum als einem neuen räumlichen und konstruktiven Ensemble, in dem ein Klimaman­agement mithilfe von Sonnenschirmen erprobt wird.
 

TRACÉS: Bietet vielleicht gerade die Frage nach Umweltauswirkungen eine unverhoffte Gelegenheit für Architekten, ihre Arbeit – und ihre Experimente – auf eine qualitativ hochwertige Lebensumgebung zu fokussieren?

Julien Grisel: Das ist in der Tat ein Aspekt, mit denen sich einige partizipativen Projekte befassen. Ich denke dabei insbesondere an Stroh- oder Lehmbauwerke, deren Realisierung allerhand Einsatz erfordert. Solche Projekte können sich nur dank dem Engagement von Freiwilligen und Projekt­trägern weiterentwickeln, die
sich schulen lassen und/oder unbedingt an der Realisierung eines nachhaltigen Bauens mitwirken möchten. Aber meistens sind hier ohnehin nur die Leute anzutreffen, die schon von solchen Projekten überzeugt sind.

Vorsichtiger bin ich bei den derzeitigen partizipativen Aktionen zur Planung von neuen Lebensumfeldern. Deren Motor sind eher Verbesserungen der  Kommunikation (die von den politischen Entscheidungsträgern gern aufgenommen werden). Gestalterisch sind sie aber weit entfernt von Ideen, wie sie John Turner in den 1960er-Jahren vorgeschlagen hat.1 Diese wurden seinerzeit mit realen politischen Aktionen verknüpft. Trotzdem gibt es auch hier Ausnahmen wie das Projekt «Belle de Mai» in Marseille, das Patrick Bouchain gefördert hat.
 

TRACÉS: In der Geschichte der zukunftsweisenden Architekturen hat Genf einen privilegierten Platz. Wie erklären Sie sich das?

Julien Grisel: Die Stadt Genf hat aufgrund ihres begrenzten Territoriums immer wieder eine mutige Stadtplanung entwickelt. Ich denke an den Braillard-­Plan von 1935, die Immobilienpro­jekte der Brüder Honegger Ende der 1950er-Jahre oder die gesamte Region Lignon in den 1960er-Jahren.

Aber ich glaube nicht, dass ein Ort mehr Potenzial hat als ein anderer, um architektonische Experimente zu fördern. Diese Möglichkeit entsteht vielmehr in Umgebungen, die gleichzeitig Kooperationen oder Interessengemeinschaften im Zusammenhang mit Denkschulen oder Möglich­keiten zur Realisierung von Projekten bieten. Selbst in einem kleinen Bergdorf wie Vrin, wo Gion A. Caminada arbeitet, kann so mit wenig Ressourcen experimentiert werden.
 

TRACÉS: Dieser Architekturpreis steht neben vielen weiteren. Worin unterscheidet er sich Ihrer Meinung nach von anderen Ehrungen?

Diese Auszeichnung ist insofern interessant, weil sie Architekten ermutigt, sich mit ihrem Fachwissen aktiv an der Idee und Umsetzung eines Projekts zu beteiligen. Sie belohnt Risikobereitschaft und Idealismus im Hinblick auf Neuerungen. Anstelle von Laudatien, die dem Ego der Architekten schmeicheln, und «Awards» für abgedrehte Papierarchitektur konzentriert sich dieser Preis hoffentlich auf anderes. Zum Beispiel darauf, unserem Beruf in seiner geduldigen und manchmal unsichtbaren Suche nach einer positiven Verän­derung der Umwelt ein Wertschätzung entgegen­zubringen.

Anmerkung
1
John Turner (geboren 1927), Verfechter der Ideen von Patrick Geddes, ist Architekt und Theoretiker für experimentelles Wohnen und Stadtplanung. Für weitere Informationen über Turner ist das Buch «Housing by People», erschienen 1976, zu empfehlen.

Das Gespräch führte Mounir Ayoub, Redaktor Architektur, TRACÉS. Übersetzung aus dem Französischen: Hella Schindel

Mehr zum Prix de Genève unter prixdegeneve.archi

Auslober des Prix de Genève: Etat de Genève, Office du patrimoine et des sites, donation Daniel Grataloup.

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