Bil­dung im Dienst ei­ner ho­hen Bau­kul­tur

An der diesjährigen Archijeunes-Netzwerktagung im legendären Farelhaus in Biel stand die Bedeutung des zivilen Engagements in der baukulturellen Bildung im Mittelpunkt.

Publikationsdatum
05-12-2022

«Baukulturelle Bildung bewegt» war das Motto der diesjährigen Archijeunes-Netzwerktagung am vergangenen 4. November in Biel. Die Vielzahl der teilweise sehr unterschiedlichen Präsentationen zeigte, dass die Diskussion um baukulturelle Bildung unterdessen auf einem hohen Niveau angekommen ist.

In seiner Einführung unterstrich Archijeunes-Präsident Thomas Schregenberger die Bedeutung von Baukultur und Identität, die sich aus aktuellem Anlass in den kriegszerstörten Gebieten der Ukraine besonders ausgeprägt aufzeigen lassen. Und die abtretende Archijeunes-Geschäftsführerin Kathrin Siebert doppelte nach mit dem Wunsch, zu bewegen – auch in der Schweiz und vor allem bei der jungen Generation.

Didaktische Modelle aus Kindheitserinnerungen

«Betreten der Stadt für Erwachsene verboten.» Anhand eines von Kindern gemeinsam gebauten Hüttendorfs erinnerte sich Christian Reutlinger an seine Kindheit und wies gleichzeitig auf zwei wichtige und aktuelle Aspekte im Zusammenhang mit der baukulturellen Bildung hin: Die Kinder und Jugendliche durften für eine bestimmte Zeit selbst eine Stadt erstellen und vor allem betreiben! Durch die mit dem Bauen und Nutzen verbundenen Prozesse lässt sich nämlich «eine Welt zu erschliessen».

Wie schaffen wir Raum für Kinder und Jugendliche, und wie erschliessen diese sich den Raum in ihrem Alltag? Welche Bedeutung hat dabei die Partizipation für junge Menschen und wie kann sie gelingen? Aus Reutlingers Forschungen (u.a. das EU-Projekt «Jugendpartizipation in europäischen Städten (PARTISPACE)», 2015–2018) ergaben sich drei zentrale Fragen:

  • Wie und wo sind junge Menschen aktiv?
  • Welche Absichten verbinden Jugendliche mit ihren Aktivitäten?
  • An welchen Orten und in welchen gesellschaftlichen Bereichen bringen sie sich ein?

Die junge Generation zeichnet sich, so zeigen die Beobachtungen, durch eine individualistischere und somit komplexere Lebensweise als die ältere. Ihre Netzwerke und Kommunikationswege sind vielfältiger, und somit auch die Herausforderungen grösser geworden. Und nicht zuletzt sind diese Wege durch eine zunehmende Ungewissheit geprägt. 

Bei der Partizipation geht es längst nicht mehr nur darum, Meinungen und Wünsche durch aufwändig choreografierte Veranstaltungen einzuholen. Es geht darum, konkrete Teilhabe und Entscheidungsmöglichkeiten zu gewähren, damit Menschen sich in ihrem (sozialen) Raum orientieren und finden können – damit sind sie bereit, Verantwortung zu übernehmen. Angebote, in denen Jugendliche sich beteiligen sollen, ohne mitentscheiden zu können, wirken unglaubwürdig, so eine Erkenntnis aus der an der Tagung präsentierten Partispace-Studie.

Sensibilisierung an Schulen

Wie das möglich ist, wurde am Projekt der transdisziplinären Vermittlungsplattform «Ville en tête» in der Romandie aufgezeigt. Diese Non-Profit-Organisation sensibilisiert Kinder und Jugendliche seit 2015 für baukulturelle Themen an den Lausanner Schulen mit grosser Präsenz. Neben der Sensibilisierung zu ihren Lebensräumen geht es «Ville en tête» mit entsprechendem Wissenstransfer vor allem auch kreative Gestaltungs- und Aneignungsprozesse anzustossen. Dies im Rahmen von Workshops und Führungen. Die Partner dabei sind – je nach Projekt – nicht nur Architekt:innen, Planer:innen, sondern Künstler:innen, Choreograph:innen, Filmemacher:innen, die eben noch andere Sichtweisen des Lebensraums einbringen können.

Das gesellschaftliche Engagement aus der persönlichen Betroffenheit zu kollektivem Handeln zu führen, war ein weiteres Thema. So inspirierend wie animierend zeigte Antonia Steger von Urban Equipe die damit verbundenen Herausforderungen auf. Urban Equipe setzt sich für eine Demokratisierung der Stadtentwicklung und -gestaltung ein und spielt dies nicht nur theoretisch durch. An konkreten Beispielen will die Gruppe aufzeigen, wie wir unsere Städte gemeinsam gestalten können. Partizipation wird dabei nicht als konsumierbare Dienstleistung aufgefasst, sondern als Beziehungsarbeit zwischen Interessengruppen, wie Architektur- und Planungsbüros, Investoren und der Gemeinde-/Stadtverwaltung.

Damit ist das Team «Urban Equipe» auch längst als erfolgreiche Brückenbauerin etabliert, weil Betroffenheit und Partizipation nicht einfach geklärt und organisiert, sondern durch Vermittlung von (Raum-) Wissen und Interessen zwischen unterschiedlichen Positionen zu einem gemeinsamen Prozess geführt werden.

Die Drachentöter von Biel

Oft allerdings muss der sens civique den staatlichen Planungsinstanzen auf die Sprünge helfen. Dies zeigte Benedikt Loderer in einer szenischen Lesung mit musikalischer Begleitung, die nicht nur für Abwechslung sorgte, sondern gleichzeitig auch eine unterhaltsame Chronologie der Ereignisse um die Bieler Initiativen «Westast so nicht» und «Westast so besser» lieferte – ein leider noch nicht ganz abgeschlossenes Opus im Zusammenhang mit dem Autobahnausbau, konkret dem Westast-Autobahnanschluss von Biel.

Dass ein grosser Teil der Bevölkerung dies nicht als Anschluss, sondern eher als eine «Zer-Siedlung» und Zerstörung eines durchgrünten Stadtquartiers und eine – neben den SBB-Gleissträngen– weitere Barriere des Siedlungsgebiets zwischen Zentrum und See auffasste, konnte am Stadtspaziergang eindrücklich nachvollzogen werden. 

Die Opposition gegen den Autobahn-Westast wurde aber nicht einfach mit einem Kampf dagegen organisiert, nein, er wurde unter dem Motto «Dagegensein genügt nicht, erst das Bessere schlägt die offizielle, staatliche Meinung» wirkungsvoll orchestriert. In minutiöser wie professioneller Arbeit wurde eine bessere Lösung erarbeitet und gegenüber der betroffenen Bevölkerung dokumentiert. Die städtebaulichen Chancen – weder 745 Bäume müssen gefällt noch 74 Häuser abgerissen noch städtebaulich öde Einschnitte in den Stadtorganismus gebaut werden – konnten so für alle aufgezeigt werden und auch, dass Biel eine Stadt am See werden kann.

Identität und Teilhabe

Baukulturelles, ziviles Engagement mit einer über ein Jahrhundert langen Geschichte zeigt der Schweizer Heimatschutz, eine jüngere Initiative im Zusammenschluss mit der Privatwirtschaft die Fondation Culture du Bâti CUB, die das Nachmittagsprogramm bereicherten, bevor Francine Fort, die Gründerin und langjährige Direktorin des Architekturzentrum «arc en rêve» in Bordeaux, mit einem Feuerwerk von Worten die Vortragsreihe abrundete.

Wer noch ausharren mochte, erlebte auf dem abschliessenden Podium die Vielfalt und vor allem die Qualität der Diskussion um Baukultur. Diese ist in den letzten Jahren in Fahrt gekommen und bleibt längst nicht mehr an Grundsatzfragen hängen, sondern bewegt sich unterdessen auf hohem Niveau – was längst nicht heisst, dass alle Wünsche erfüllt seien.

Die spannende Tagung zeigte einmal mehr die Bedeutung der Baukultur im Zusammenhang mit Identität, Orientierung und Aneignung im und vom sozialen Raum, die für die kommenden Generationen mindestens so entscheidend sein werden wie für die gegenwärtigen. Zum Abschluss des Tages resümierte Caspar Schärer, Architekturjournalist und Generalsekretär des BSA (der gemeinsam mit SIA, BAK und weiteren Unterstützern den Verein Archijeunes seit seinen Anfängen begleitet hat) treffend, die Tagung zeige auch, dass die lange Diskussion um die baukulturelle Bildung offensichtlich Wirkung zu zeigen beginne.

Doch nicht genug damit. Klar wurde in Biel auch die Verantwortung der heutigen Entscheidungsträger:innen. Teilhabe und Partizipation sind ein wichtiger Teil der vieldiskutierten (hohen) Bau-Kultur, der ein stetiger und vor allem ein gemeinsamer Lernprozess sein muss. 

Alle Referate gibt es zum Nachschauen als Video in der youtube-Playlist.