Wenn die sieb­te Kunst die ers­te igno­riert

Locarno: Don’t touch the screen!

Die Leinwand des Filmfestivals von Locarno auf der Piazza Grande soll ersetzt werden. Sie zu verteidigen, ist keine Nostalgie – es ist kulturelle Verantwortung. Vacchinis Werk ist ein lebendiger Teil des Filmfestivals von Locarno. Sie ohne eine gemeinsame Vision anzurühren, bedeutet den Verlust von kultureller Identität.

Publikationsdatum
29-07-2025

Es ist weder Nostalgie, noch Rhetorik und auch kein Widerstand gegen Veränderung, sondern eine kulturelle Frage – und sie ist dringend. Die Kampagne «Locarno: Don’t touch the screen!», die namhafte Persönlichkeiten aus Architektur, Kino, Forschung und Zivilgesellschaft ins Leben gerufen haben, sollte unterstützt, unterzeichnet und geteilt werden. Es geht dabei um die Leinwand des Filmfestivals von Locarno, die Livio Vacchini 1971 entworfen hat (Archi hat bereits darüber berichtet) und die weit mehr ist als eine technische Vorrichtung für Filmprojektionen. Sie ist ein architektonisches Werk, ein Stück öffentlicher Raum, ein kulturelles Element, das die Piazza Grande in einen Ort kollektiver Wahrnehmung verwandelt hat. In anderen Worten: Sie ist ein integraler Bestandteil des Festivals.

Die Leinwand zu schützen – und mit ihr die anderen Elemente, die das Gesamtwerk ausmachen –, bedeutet nicht, sie zu musealisieren. Es bedeutet, ihre gestalterische Kraft, ihre historische Relevanz und ihre Fähigkeit zur Sinnstiftung anzuerkennen. Vor allem aber bedeutet es zu verstehen, dass die Identität des Filmfestivals von Locarno auch durch diese vergängliche Struktur geprägt ist, durch ihren Auf- und Abbau, der sich wie ein öffentliches Ritual jährlich wiederholt. Nur wenige Städte der Welt können eine derart innige, konkrete und andauernden Beziehung zwischen Architektur und Film vorweisen. In Locarno verschmelzen temporäre und permanente Strukturen ohne grosse Rhetorik zu einem kollektiven Raum, in dem Stühle, hochwertige technische Infrastruktur und historische Bauten in einem fragilen, aber ausdrucksstarken Gleichgewicht nebeneinanderstehen.

Die Leinwand durch eine andere Konstruktion zu ersetzen – leichter, einfacher aufzubauen, vielleicht kostengünstiger? – scheint eine bequeme Lösung zu sein. Doch funktionale und wirtschaftliche Argumente lassen sich nicht gegen den symbolischen, kulturellen und identitätsstiftenden Wert dessen aufwiegen, was entfernt werden soll. Jede Stange, jede Verbindung und jeder Abschnitt von Vacchinis Werk hat eine Bedeutung und verdient Anerkennung. Es ohne dieses Verständnis zu entfernen, wäre ein Zeichen kultureller Verarmung.

Baukulturelles Erbe besteht nicht nur aus alten Mauern und berühmten Denkmälern. Es umfasst auch filigrane Strukturen, vergängliche Elemente und Bauwerke, die ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugen. Dazu gehört Vacchinis Werk. Und als solches sollten wir es schützen, instand halten und bei Bedarf aktualisieren. In der Vergangenheit ist das bereits mit grossem Einsatz geschehen, wodurch ein vielleicht nicht perfektes, aber offenes und wandlungsfähiges Werk erhalten werden konnte. Ersetzen sollten wir es aber nicht. Das hat auch Gabriele Neri aufgezeigt, der 2018 in Archi die Architekturgeschichte des Festivals mit akribischer Genauigkeit rekonstruiert hat – eine Analyse, die zeigt, wie bedeutend diese Strukturen für die Stadt und den Kanton waren und sind.

Selbst wenn man tatsächlich zum Schluss käme, dass die Leinwand ihre Rolle beim Festival erfüllt habe, darf sie nicht als ein Haufen Gerüstrohre in einem Lagerraum enden. Welche zweite Existenz könnte sie haben? Eine ernsthafte Auseinandersetzung, vielleicht im Rahmen eines Wettbewerbs – wenn auch nur als Ideensammlung –, hätte neue Perspektiven eröffnen und ein umfassenderes Bild kultureller Entscheidungsprozesse liefern können. Ein solcher Prozess hätte Debatten, gegenseitiges Zuhören und Visionen ermöglicht. Dieser Weg hätte den kulturellen Wert dieses architektonischen Werks sichtbar gemacht und vielleicht sogar noch stärker zu verbreiten. Und das Festival hätte seine Verantwortung anerkannt – die in erster Linie eine kulturelle und erst dann eine technische ist –, diesen Wert zu bewahren und weiterzugeben. Gerade aus dieser Verantwortung heraus hätte die Entscheidung auch im Falle eines notwendigen Ersatzes in einem partizipativen Verfahren unter Einbezug aller Beteiligter – direkt wie indirekt – getroffen werden müssen.

Das Festival ist ein fester Bestandteil von Locarnos Identität und diese Identität basiert nicht nur auf dem Filmprogramm, sondern auch auf der Art und Weise, wie die Stadt das Kino und sein Publikum empfängt. Die Architektur der Piazza Grande und die Leinwand sind wesentlicher Bestandteil dieser Begrüssung. Die Beziehung zwischen Institutionen und Architektur ist geprägt von Gedächtnislücken, manchmal sogar von regelrechtem Verrat. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass dies nicht einer dieser Fälle wird. Vacchinis Leinwand zu verteidigen, heisst nicht, sich dem Wandel zu widersetzen – sondern zu fragen, wie Wandel möglich ist, ohne zu zerstören. Denn Baukultur ist zuallererst eine gemeinschaftliche Kultur. Sie betrifft nicht nur Architektinnen oder Techniker, sondern ist Teil einer kollektiven Vorstellung, die den Raum prägt. Entscheidungen über das kulturelle Erbe – ob materiell oder immateriell – sind öffentliche Entscheidungen und müssen als solche verstanden, diskutiert und gemeinsam getragen werden. Locarno ist eine Stadt, keine Renditemaschine. Das Festival ist nicht nur ein Event, sondern ein Erlebnis. Und diese Leinwand – so bescheiden wie kraftvoll – ist ein lebendiger Teil dieses Erlebnisses. Sie zu verteidigen, ist ein Akt der Verantwortung. Denn Kultur entsteht auch indem wir bewahren, was uns gelehrt hat, gemeinsam zu sehen.