«Die Zu­kunft ist un­ge­wiss, to­ta­le Pla­nungs­si­cher­heit ei­ne Il­lu­si­on»

Wie langfristige Entwicklungsprozesse – zum Beispiel im Städtebau – dennoch gelingen können, erläutert Senem Wicki, Verwaltungsratspräsidentin von espazium – Der Verlag für Baukultur und Kaospilotin. Ein Gespräch über die Macht der Fantasie, die zum Handeln befähigt, über verbindende Zukunftsbilder und qualifiziertes Streiten.

Publikationsdatum
09-11-2022


Senem Wicki, Sie wurden in Dänemark zur Kaospilotin ausgebildet. Was bedeutet diese Berufsbezeichnung?

Ein Kaospilot kann im Chaos navigieren und fliegt auch dann, wenn nicht alles unter totaler Kontrolle sein kann – im Moment wahrscheinlich eine ganz nützliche Fähigkeit. Konkret habe ich damals während drei Jahren mit Kunden aus Wirtschaft, Kultur und Politik gelernt, motivierende Veränderungsprozesse zu gestalten und sinnvolle Projekte zu führen, und habe mein ganzheitliches, unternehmerisches Denken geschärft.


Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Zukunft der Stadt. Welche Tendenzen stellen Sie aktuell fest?

Offensichtlich ist, dass sich unsere Einstellung zum Urbanen wandelt: Die seit der Moderne getrennten Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Bildung, Produktion, Einkaufen, etc. vermischen sich zunehmend auch im realen Leben, und in der Folge lösen sich auch die entsprechenden räumlichen Zuordnungen auf. Ein Café ist auch ein Zuhause, ein Zuhause auch ein Büro, ein Büro auch eine Krippe. Interessante, neuartige, hybride Räume werden damit möglich – und damit auch neue Vorstellungen und Regulatorien nötig, um solche Räume jenseits der üblichen funktionalen Kategorien zu entwickeln. Eine weitere Tendenz ist, dass dies nicht mehr die Aufgabe von Behörden und Planungsfachleuten allein sein kann: In unserer informierten Bürgergesellschaft wollen die Menschen bei der Neugestaltung ihrer Städte mitwirken, es braucht transparente, partizipative und dialogische Prozesse auf Augenhöhe. Auch unsere Ansprüche an die Stadt werden immer höher. Wir wollen uns schnell durch sie hindurchbewegen, uns aber auch in ihr erholen können. Wir wollen da wohnen, wo es passiert, aber nicht viel dafür zahlen. Wir wollen nachhaltig leben, aber der Verzicht muss einfach gehen. Diese Ansprüche sind lösbar, aber es braucht schon etwas Hirnschmalz dafür.


2020 begleiteten Sie die Stadt Zug in der Entwicklung ihrer «Smart City Zug»-Strategie und entsprechender Zukunftsbilder. Der Begriff Smart City ist in den letzten Jahren stark strapaziert worden, von der totalüberwachten Gated Community bis hin zumklimaresilienten Stadtökosystem. Worum ging es in diesem Fall?

Eigentlich haben wir uns nicht mit der smarten Stadt, sondern mit smarten Menschen – «Smart Citizenship» – auseinandergesetzt: Was kann der Mehrwert einer digitalen Vernetzung für die Bewohnerinnen und Bewohner sein? Wie können uns digitale Technologien dabei unterstützen, informierte Entscheide zu treffen, ohne an unserer Stelle zu entscheiden? Der Untertitel der Zuger Strategie ist «Digitale Vernetzung im Dienst der Menschen». Das ist abstrakt, deshalb entwickelten wir konkrete Zukunftsbilder: zum Beispiel die Vorstellung eines virtuellen Mitwirkungsplatzes, wo man sich wie auf einem Dorfplatz trifft, debattiert und gemeinsame Entscheide fällt. Eine solche «smarte» Infrastruktur kann bei Mitwirkungsprozessen die Hemmschwelle mitzureden senken, gerade für die jüngere Bevölkerung – also die künftigen Stadtbewohnerinnen und -bewohner. Das Sammeln und Aggregieren von Daten ist aber auch mit Risiken verbunden, beispielsweise wenn Personendaten nicht ausreichend geschützt sind.


Weshalb braucht es konkrete Bilder, um Zukunftsthemen sichtbar zu machen?

Weil nur das, was wir uns ausmalen können, uns auch motiviert tätig zu werden. Ein Beispiel ist die Mobilität: Man hätte schon vor 20 Jahren in abgelegenen Tälern wohnen und von dort aus arbeiten können, das Internet war  schon etabliert. Nur konnte man sich das damals nicht vorstellen. Jetzt gibt es Vorstellungen und Vorbilder dafür, was remote work bedeutet, und plötzlich geht es. Um neue Möglichkeiten auszuschöpfen, reicht es nicht, wenn die nötige Technologie vorhanden ist; es braucht auch Handlungsfähigkeit – und die wird auch durch Vorstellungskraft geschaffen. Wie wir wissen, ist letztere nicht bei allen gleich gut ausgebildet, lässt sich aber ausweiten. Je öfter ich imaginiere, was sein könnte, wenn die Dinge anders wären, als sie heute sind, desto besser bin ich vorbereitet auf Unvorhersehbares. Dieses mentale Training kann mithilfe von Zukunftsbildern stattfinden oder zunehmend auch mittels Eintauchens in virtuelle Räume. Das Metaverse – oder lieber Pluraverse! – bietet hier viel Potenzial, die Welt spielerisch neu zu bauen und Dinge auszuprobieren, ohne gleich mit dem Betonmischer auffahren zu müssen. 


Sie haben die Visionsentwicklung für ein neues Stadtquartier «klybeckplus» in Basel begleitet, dessen städtebauliches Leitbild kürzlich veröffentlicht wurde (vgl. Infos unten). Worin bestand Ihre Rolle?

Die drei Grundeigentümer wollten – noch vor Quadratmeter- und Ausnützungsdiskussionen – eine gemeinsame Vorstellung vom Zukunftspotenzial des Orts. Unser Auftrag war, sie darin zu unterstützen und einerseits Expertise und Zukunftswissen einzubringen, anderseits diesen Prozess zu führen. Ziel dieser Arbeit war es, zukunftsfähige Narrative für den Ort zu entwerfen, die offen genug sind, um laufend neu interpretiert werden zu können.


Was heisst das?

Im Klybeck heisst das beispielsweise, den Labor-Charakter dieses Orts für Experimente zu nutzen, um neue städtebauliche Ansätze zu testen, und im bisher reinen Werkareal Platz für die Zukunft der lokalen, ressourcenschonenden Produktion nahe am Menschen zu machen. Oder das Potenzial des Klybecks einzusetzen für verbindende Frei-und Zwischenräume, die der zunehmenden Fragmentierung in unserer Gesellschaft entgegenwirken. Diese Basis einer Visionsentwicklung kann Geburtshelferin sein für eine gemeinsame Realisation, die weit über herkömmliche Kompromisslösungen und politische Positionen hinausdenkt.


Wie tragen Sie dazu bei, diese gemeinsame Lust an der Imagination zu wecken?

Unsere Expertise ist nicht städtebaulich, sie liegt in der integralen Betrachtungsweise von heute und dem Möglichkeitenraum von übermorgen. Wir decken blinde Flecken auf und benennen Zielkonflikte – denn die gibt es auch. Wir wissen alle: Welche Zukunft für einen Ort wünschenswert erscheint, unterscheidet sich je nach Person und sozialer Gruppe enorm. Wir wollen Unterschiede diskutieren, auch qualifiziert streiten. Unsere Erfahrung ist: Wenn man eine Situation mit der Zukunftsbrille betrachtet, besteht die Chance, Konflikte anders wahrzunehmen; die Positionen mögen sich unterscheiden, doch das künftige Ziel kann verbindend wirken.


Urbane Transformationsprozesse dauern lang, manchmal Jahrzehnte. Während dieser Zeit ändern sich die Akteure, Ziele und Voraussetzungen. Gibt es Strategien, um mit dieser Unsicherheit, mit dieser Unplanbarkeit umzugehen?

Von Vorteil ist, wenn Akteure in der Lage sind, sich in einem gemeinsamen Lernprozess zu engagieren, neue Erkenntnisse laufend einzubringen und diese Kompetenz weiterzugeben. Natürlich können wir bei langfristigen Prozessen weiterhin eine Sparring-Rolle übernehmen, und unsere Auftraggeber dabei unterstützen eine eigene Zukunftskompetenz aufzubauen. Die Unesco spricht in diesem Zusammenhang von «Futures Literacy» und hat diese seit 2020 auch als strategischen Fokus aufgenommen: «Die Fähigkeit von Menschen besser zu verstehen, welche Rolle die Zukunft spielt in dem was sie sehen und was sie tun.»


Trotzdem braucht es Regeln, die verbindlich genug sind, um eine gewisse Planungssicherheit zu gewährleisten, aber auch offen genug, um künftigen Wandel zu erlauben. Wie ist dieser Spagat zu schaffen?

Der dänische Architekt und Städteplaner Jan Gehl untersuchte zusammen mit seiner Frau Ingrid Gehl, einer Pychologin, das Zusammenleben von Menschen in deren gebauten Umwelt. Er definierte urbane Räume weniger über harte Faktoren wie Baulinien als vielmehr über weiche Faktoren wie Themen und Inhalte. Solche vermeintlich weichen Faktoren können hart genug sein, um eine Idee voranzutreiben, aber sie bleiben interpretierbar. Das müssen sie sein, wir bauen schliesslich für die nächsten 100 Jahre. Wie schaffen wir eine gemeinsame, langfristige Teilhabe, die über heutige, individuelle Bedürfnisse hinausgeht? Was braucht die Gesellschaft in Zukunft? Wenn Bürgerinnen und Bürger das vorspüren können, und Baufachleute dabei helfen, diese Vorstellungen räumlich umzusetzen, werden wir viel zukunftsfähiger entwickeln. Dazu braucht es eine integrierte, interdisziplinäre Betrachtung, weg von einer funktionalistischen oder technologischen Perspektive.


Warum fällt es so schwer, sich darauf einzulassen?

Die Zukunft ist ungewiss, totale Planungssicherheit eine Illusion. Gleichzeitig ist Neues auszuprobieren immer mit Risiken verbunden – jemand muss seinen Kopf hinhalten und sagen: Wir eröffnen hier eine Experimentalzone, obwohl wir heute nicht mit Sicherheit wissen, was dabei herauskommt. Wer damit leben lernt, nicht zu wissen, was kommt, bleibt handlungsfähig – eine systematisch hergeleitete, wünschenswerte Zukunft im Hinterkopf ist dabei eine mächtige Antriebskraft.  

klybeckplus, Basel


Das Klybeck-Areal ist mit knapp 30 Hektaren das grösste Transformationsareal in Basel. Ende September 2022 traten die Planungspartner Kanton Basel-Stadt, Swiss Life und Rhystadt mit dem städtebaulichen Leitbild klybeckplus an die Öffentlichkeit.

Das Ziel ist ein offener, grüner und durchmischter Stadtteil, der bisher abgetrennte Quartiere miteinander verbindet. Kernelemente der Entwicklung sind der nachhaltige Umgang mit Ressourcen, eine stadtverträgliche Mobilität und die Anforderungen an eine klimaangepasste Stadt.