Fried­fer­ti­ge Schat­ten­bo­xer im Quar­tier

Alterszentrum Trotte

Wer grosse Architektur in Zürich sehen will, muss nicht auf den Chipperfield-Bau am Kunsthaus warten. Schon heute lässt sich Überraschendes in der Peripherie entdecken, zum Beispiel in Wipkingen.

Publikationsdatum
24-06-2019

«Zwee Boxer im Ring gäh nang uf e Gring, si füelen enang mau zersch uf e Zang» – Mani Matter

Sehr lang hat sich die Stadt Zürich mit dem Quartier gestritten. Seit Anfang Juni dürfen knapp 90 Seniorinnen und Senioren endlich in das neue Alterszentrum Trotte mitten in Wipkingen einziehen, fünf Jahre später als geplant. Nun steht der grosse Neubau an dieser attraktiven und gut einsehbaren Hanglage in dunkelroter Farbe und rundum mit Kacheln verhüllt da und überragt mit seinen neun Stockwerken die umliegenden Wohnhäuser um mindestens die doppelte Höhe.

Genau an diesem Massstabssprung hatte sich die Anwohnerschaft gestört und eine Beschwerde gegen die Baubewilligung eingereicht. Sie provozierte neben der zeitlichen Verzögerung auch einen baurechtlichen Kompromiss. Denn in einigen Punkten gab das kantonale Verwaltungsgericht den Beschwerdeführern recht. So wurde eine nachträgliche Redimensionierung des Baukörpers angeordnet und zudem im Detail definiert, wie ein konformes Schrägdach auszusehen hat. 

Im Vergleich zum Entwurf, mit dem Enzmann Fischer Architekten den Wettbewerb vor dreizehn Jahren gewonnen haben, ist das Volumen leicht geschrumpft, und ein Geschoss ist aus dem Raumprogramm gestrichen worden. Auf sechs der ursprünglich geplanten 95 Bettenzimmer musste verzichtet werden. Ansonsten hat das juristische Gerangel kaum sichtbare Spuren hinterlassen; das Schattenboxen konnte ohne Knockout oder blaue Flecken beendet werden. Noch immer prägend sind das Verfremden einer klassischen Gebäudeform oder das Dach als fünfte Fassade.

Weil sich die Projektverfasser von Anfang auf eine robuste architektonische Formensprache eingeschworen haben, ist nirgends ein angezählter Verlierer auszumachen. Der Punch des Alterszentrums flösst eher Bewunderung ein als Furcht. Die Pointe des Baurechtsverfahren aber ist: Parallel zur Bereinigung der Beschwerden wurde in der Zwischenzeit die städtische Bau- und Zonenordnung revidiert. Mit der jetzt gültigen Fassung hätte selbst das per Gerichtsentscheid geschrumpfte Projektvolumen nicht mehr bewilligt werden dürfen.

Ein gezähmter Massstabssprung 

Das Gewicht und die Substanz des roten Neulings reizen die Möglichkeiten zum Skalensprung wohl aus; wie die architektonische Zähmung des Schwergewichts gelingt, beeindruckt aber mehr. Die gefalteten Hauptfassaden und aus der Reihe tanzende Fenster mindern die kompakte Erscheinung. Einzig zur Nordstrasse hin präsentiert sich eine harte Front: Ein verstohlener Haupteingang sowie schmale Fensterschlitze lassen sich von wuchtigen Kachelwänden erdrücken.

Der Y-förmige Baukörper ist aber quer in den Hang gesetzt und kein Riegel. Die Dachgeometrie ahmt die Hangneigung so weit nach, dass sich der rote Neuankömmling auf respektvolle Augenhöhe mit den Nachbargebäuden begibt. 

Das Alterszentrum überrascht auch sonst mit städtebaulicher Offenheit, wie sie viele Neubauten im städtischen Umfeld leider häufig vermissen lassen. Doch in Wipkingen ist der positive Ausnahmefall zu entdecken: Aus einer zufälligen Begegnung entsteht hier sogar ein knisterndes Rencontre. Der «Trotte» gegenüber steht ein Wohnhaus ebenfalls jüngeren Datums.

Zwar scheinen die gegenseitigen Kontraste zu dominieren: Hier der grosse Brocken, dort ein schmächtiges Haus; hier eine fein säuberliche Schale, dort nur raue Oberflächen. Trotzdem sind beide Bauten architektonisch fit genug, sich einen ebenbürtigen Sparringkampf liefern zu können. Beide überzeugen mit selbstbewusster Haltung und abstrahierter Hausform, und spürbar ist auch die gemeinsame Lust an Stilisierung und bildnerischem Gestalten. Und ebenso verbindend ist die Ignoranz gegenüber aktuellen Bautrends. Ihre Fassaden sind weder gläsern-glänzend noch monoton gelocht. 

Ebenbürtige Sparringpartner

Wie der grosse Nachbar ist das Wohnhaus eine Schau für sich. Das Projekt der Zürcher Künstlerarchitekten Fuhrimann Hächler handelt von einem Rohling in Ausdruck und Struktur. Die Wände sind unverputzte Mauerwerke; selbst der Mörtel quillt in erstarrter Form heraus. Ebenso unfertig stechen die Fensterrahmen hervor. Wiewohl es an unfertige Objekte in Südeuropa erinnert, ist das Gebäude in jeglicher Hinsicht zu Ende gedacht und die Backstein- und Sichtbetonfassaden normengerecht gedämmt. Wie beim Alterszentrum ist das quartiertypische Satteldach hier nurmehr als Andeutung zu erkennen. Hat die stattliche Burg hier etwa sogar ein vorwitziges Wächterhaus erhalten?

Tatsächlich bildet das Alterszentrum nur den Auftakt eines grösseren Ganzen: Der vorgelagerte Aussenraum ist ein kleiner öffentlicher Park, der das Quartier bereichern soll. An dessen Ende wird die alte Trotte eben noch zu einem städtischen Wohnobjekt umgebaut. Wenn man nun einen Fremdkörper in Wipkingen sucht, dann wäre es am ehesten dieses denkmalgeschützte Gebäude. Für architektonische Frische und positiven Punch sorgen dagegen die beiden Neubauten, die mindestens so sehr Skulptur sind wie Haus.

Öffentliches Prestigeprojekt

Das Alterszentrum Trotte ist ein Ersatzneubau, an dessen Charakter und Dimension sich die Stadt gewissermassen abgearbeitet hat. Baudirektor André Odermatt bezeichnete das Projekt an der offiziellen Eröffnung selbst als «Vorhaben aus einer etwas anderen Zeit». Kurz nach Anbruch des Millenniums wurde die Idee zu diesem Prestigeprojekt gefasst.

Anlass war der unbefriedigende Zustand des bestehenden Altersheims, mit engen Zimmern, Nasszellen in den Etagen und zunehmendem Leerstand. Die Stadtverwaltung packte viele Ansprüche in das Neubauprogramm. So sollte das Alterszentrum an der Trottenstrasse sein Betreuungsangebot um eine Demenzstation und den Conciergeservice erweitern. Zudem galt es den Wohnkomfort zu verbessern. Und ebenso strebte man eine hohe Effizienz in Betrieb und Raumorganisation an.

Diese Vorgaben auf hohem Niveau umzusetzen ist fast durchwegs gelungen. Das Innenleben ist vielfältig nutzbar und – gehobenem Hotelstandard vergleichbar – hochwertig materialisiert. Die Privatzimmer weisen auch eine Loggia auf. Einzig die halböffentlichen Erschliessungszonen hätte man sich geräumiger vorstellen können; so ist der Platz für ein spontanes Verweilen reduziert.

Das Alterszentrum Trotte ist auch ein frühes Exempel für das nachhaltige Bauen: Das Amt für Hochbauten definierte hier erstmals 2000-Watt-taugliche Bau- und Nutzungskriterien. Das Gebäude soll die Kennwerte des Standards Minergie-P-Eco einhalten können; für Wärme, Kälte und Luftwechsel würden demnach nicht einmal die Hälfte der Energie eines konventionellen Neubaus verbraucht.

Primäre Energiequelle ist das Erdreich, das aktiv – mit Wärmepumpe – zum Heizen und für das Warmwasser sowie passiv zum Kühlen verwendet werden kann. An der Eröffnung wurde bestätigt, dass die Minergie-Zertifizierung demnächst mit Erfolg abgeschlossen werden könne. 

Auch ökonomisch ist die Trotte ein Grossvorhaben: Zwar hatte die Bevölkerung den Objektkredit über 62 Mio. Franken im Jahr 2010 an der Urne deutlich gutgeheissen. Interne Analysen zeigten aber schon damals, dass die spezifischen Baukosten pro Bettenzimmer mehr als doppelt so hoch sind als bei vergleichbaren Neubauten in der Schweiz (vgl. Link). Der Mietpreis für die Hotellerie ist daher auf die höchste von drei Leistungstarifen für städtische Alterszentren eingestuft. Trotz Bauverzögerungen konnte das Budget eingehalten werden.