Was wäre wenn: Un­ge­baute Ar­chi­tek­tur in der Schweiz

Das Schweizerische Architekturmuseum S AM bat Architekturforen und -vereinigungen um Entwürfe, die nicht zur Ausführung kamen, aber im regionalen Diskurs bleiben. In der Schau «Was wäre wenn» lassen sich politische wie gesellschaftliche Umstände und gestalterische Strömungen neu betrachten.

Date de publication
19-02-2024

Im Hinblick auf den Umgang mit Ressourcen ist es eine überzeugende Idee, Entwürfe auszustellen, die keine Bautätigkeit nach sich gezogen haben. Pläne, Korrespondenzen und Zeitungsartikel sind in Fülle vorhanden und dokumentieren Aufstieg und Fall sowie die zum Teil hitzig geführten Debatten um ihre Anerkennung. Manche Büros trennten sich erst zu dieser Gelegenheit von den Modellen gescheiterter Wettbewerbseingaben. Denn es hat eine tröstliche Komponente, dass die intellektuelle Energie und das Herzblut, das in vergeblich erarbeitete Projekte floss, in diesem Zusammenhang eine späte Würdigung erfahren.

Im Vergleich zum geringen Prozentsatz an Wettbewerbsbeiträgen, die umgesetzt werden, zeigen die nicht realisierten Projekte ein konkreteres Bild des hiesigen Architekturbegriffs. Das Kuratorenteam lenkt den Fokus auf die Bedeutung dieser Papier gebliebenen Bauten. Oftmals sind die Ideen, die noch nicht von baulichen, politischen oder finanziellen Anforderungen eingeschränkt wurden, von grosser Klarheit – wenn auch wahrhafte Utopien eher selten aufzufinden waren. Als theoretischer Teil der Architekturgeschichte bilden sie Meilensteine, an denen sich die Entwicklung orientiert.  

Sisyphos lässt grüssen

Im ersten Raum steht ein grosses Regal, wie es wohl in jedem Bürohinterraum oder -keller eins gibt. Hier lagern Makulatur gewordene Modelle, einige davon inzwischen verstaubt, halb zerbrochen oder zerfallend in einzelne Module, die zu oft ausgetauscht wurden. Schulklassen sind eingeladen, sie weiterzubauen, zu entzaubern und mit einer neuen Vision zu versehen.

Im Hintergrund läuft ein 90-minütiger Dokumentarfilm, in dem die berühmten Köpfe von Jean Nouvel oder Frank Gehry auftauchen. Als künstlerischer Beitrag zum Wettbewerbsgeschehen um einen Museumsneubau in Andorra 2013 hat der spanische Architekt Angel Borrego Cubero die Büros der beteiligten «Stararchitekten» in den Wochen vor der Abgabe begleitet. Die Bilder gewähren einen verstörenden Einblick in den Arbeitsalltag grosser Architekturbüros. Schonungslos führen sie den Arbeitsdruck und den Aufwand vor Augen, der anschliessend mit hoher Wahrscheinlichkeit zu keinem Auftrag führt. Im Kontrast zur Mythologisierung ihrer Namensführer hat diese Perspektive eine tragikomische Komponente. Im Fall des Museums von Andorra starb das Projekt mit dem anstehenden Regierungswechsel, bevor überhaupt ein Sieger bestimmt war.

Melange statt grosser Wurf

In den folgenden Räumen sind Highlights des gesamtschweizerischen «Ungebauten» ausgestellt. Jedes Projekt ist mit Informationsmaterial, zumeist kopierten Texten und Plänen, auf einem «Eiermann» präsentiert – dem bis heute in den Architelkturbüros omnipräsenten Arbeitstisch. Einzelne Reminiszenzen verstärken den Eindruck, dass die Gedanken der Person, die in diesem Kontext um die bestmögliche Lösung gerungen hat, noch im Raum schweben – man ist eingeladen, auch die Menschen hinter dem Modell wahrzunehmen.

Den Anfang macht der Wettbewerbsbeitrag von Le Corbusier und Pierre Jeanneret für den Palast des Völkerbunds in Genf von 1927. Die Jury traf sich 65-mal und begutachtete insgesamt 16 km Pläne, ohne dass es ihr gelang, einen Sieger aus den 377 eingereichten Projekten zu bestimmen. Zu gegensätzlich waren die Meinungen zu der symbolischen Aussage des Baus: Sollte er der stabilen, weit zurückliegenden Vergangenheit huldigen und in einem neoklassizistischen Gewand erscheinen oder aber die Moderne feiern?  

Realisiert wurde letztlich eine Melange aus vier anderen Entwürfen, was Le Corbusier enorm enttäuschte und zu Plagiatsvorwürfen veranlasste. Er kämpfte noch jahrelang und versuchte dann, den Bau andernorts zu realisieren.

Pro und Contra Mitsprache

Der Entwurf von Jørn Utzon für ein neues Schauspielhaus in Zürich entstand 1963 während des Baus seiner Sydney Opera und wurde bis 1973 diskutiert. Die internationale Prominenz schmeichelte der Stadtgesellschaft so lange, bis es auf der Baustelle in Australien zu Problemen kam und der Entwurf für Zürich plötzlich infrage gestellt wurde – aufs Schönste belegt in der Presse. Im Nachhinein ist festzustellen, dass der realisierte Umbau des bestehenden Hauses auch eine gute Lösung war.

Einer der wenigen exzentrisch anmutenden Entwürfe liegt der Machbarkeitsstudie zur Bundeshauserweiterung (1991–1993) von Mario Botta zugrunde: Ein Bogen in typisch Botta’scher Postmoderne umfängt das Bundeshaus vom Aarehang her. Im Kontrast zur zitadellenartigen Struktur der Erweiterung gewinnt der zentrale Bestandsbau eine bildhafte Qualität. Schade, dass das Projekt nun im Kapitel «versackt» zu verorten ist – bevor es zur Volksabstimmung kam, stoppte die nationalrätliche Kommission den Entwurf aufgrund vielfältiger Bedenken.

Neben den Vorteilen der direkten Demokratie als Bauherrin führt die breite Abstützung einer Entscheidung auch dazu, dass sie Extreme verhindert. Bürgerbewegungen haben manche innovative Architektur zu Fall gebracht, wie zum Beispiel den Bau der «Stadtkrone» in St. Gallen durch Caruso St John, der 2012 als Sieger aus einem privaten Wettbewerb hervorgegangen war.

Dokumentiert sind aber auch die Kämpfe von 2014 bis 2020 um den Ausbau des West-Asts der Bieler Stadtautobahn, dem sich Bürgerinitiativen hartnäckig entgegenstellten und somit die Stadt vor einer weiteren Zerschneidung durch überdimensionale Strassenachsen bewahrten.

Die Entwürfe sprechen lassen

Im Ergebnis ist unsere gebaute Landschaft durchsetzt von mehrheitsfähigen Entwürfen und Stagnation. Aus heutiger Sicht ist es beruhigend festzustellen, dass so manches Projekt, das seinerzeit als grosser Wurf erschien, besser ungebaut geblieben ist und eine Lösung im Bestand in vielfacher Hinsicht die bessere Wahl war.  

Eine grosse Qualität der Ausstellung liegt darin, die Entwürfe für sich sprechen zu lassen, also keine Wertung vorzunehmen. So ist es den Besuchenden überlassen, die Argumente zu studieren und eine eigene Haltung zu entwickeln. Ein wichtiger Nebeneffekt der Ausstellung ist die Einbindung von 20 aller 27 schweizerischen Architekturforen und -institutionen. Der neue Anlauf zur Kooperation bildet sich im begleitenden Programm ab und wird vom S AM vorangetrieben.

Die Ausstellung «Was wäre wenn» läuft noch bis zum 7. April im Schweizerischen Architekturmuseum S AM.

 

Weitere Infos:
sam-basel.org

 

Der Katalog zur Ausstellung ist erhältlich im Christoph Merian Verlag.

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