Mehr Dis­kurs!

Die Kolloquiumsreihe der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst zum 25. Jahrestag ihrer Gründung ging in die dritte Runde. Dr. Hans Seelhofer von Lüchinger+Meyer gab einen persönlichen Einblick in sein Schaffen und Entwickeln von Tragwerken. Dabei deckt er auf, wie stark sich auch Ingenieure mit den Projekten identifizieren – mit eine Grundlage für vielschichtig nachhaltige Ingenieurbaukunst.

Date de publication
15-06-2021

Es ist eine Rückkehr an die Wiege: Dr. Hans Seelhofer – Bauingenieur, Verwaltungsrat und Mitglied der Geschäftsleitung von Lüchinger+Meyer – referierte online für die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst und das IBK am ETH Hönggerberg. Mit der Einbettung in die IBK-Veranstaltungsreihe kehrt die Gesellschaft wie beim vorangehenden Kolloquium mit Dr. Jacqueline Pauli an ihren Gründungsort zurück – die ehemalige Wirkungsstätte von Prof. Marti, emeritierter Professor für Baustatik und Konstruktion, der die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst 1995 gründete.

Das Ziel der Kolloquien folgt der Ambition des Vereins, das Bewusstsein der kulturellen Bedeutung der Ingenieurbaukunst zu fördern und ihren Stellenwert für die Tätigkeit der Bauingenieurin und des Bauingenieurs aufzudecken. Hans Seelhofer erörterte diese Thematik und seinen persönlichen Bezug zur Ingenieurbaukunst in seinem Vortrag «Essay zur Konzeption von Hochbau-Tragwerken» anhand von einem gedankenreichen und inspirierenden allgemeinen Einstieg sowie vier Fallbeispielen aus seiner Berufspraxis als Tragwerksplaner.

Appell an die Ingenieure

Seelhofer sieht in der allzu oft noch brach liegenden Diskussionskultur zwischen Ingenieuren ein Potenzial für die Förderung des Bewusstseins der bedeutungsvollen Tätigkeit der Tragwerksplanenden. Dabei fokussiert er nicht so sehr die Sichtbarkeit der Ingenieure im Alltag, als vielmehr die Ingenieure selber, die sich ihrer Wirkungskraft bewusst sein sollten. Denn Ingenieure und Ingenieurinnen prägen die Gesellschaft und das Leben in hohem Masse und in vielschichtiger Weise.

Etablierte kritische Diskurse von Tragwerkskonzepten als Teil der Gesamtkonzeption eines Bauwerks unter Tragwerksplanenden fördern den reflektierten Blick auf das eigene Werk und die Sichtweise bei einer Neu- oder Weiterentwicklung von weiteren Tragsystemen. Insofern seien auch umfassende – allenfalls unabhängige – Publikationen von Tragwerkskonzepten Grundlage für solche Diskurse.

Sie ermöglichen eine vertiefte kritische Auseinandersetzung von aktuellen und historischen Projekten; nicht nur als Leserin, sondern auch als Autor. Kontroverse Ansichten können aufkeimen und besprochen werden, was angesichts des derzeit (übermässig) grossen Fokus’ auf die digitalisierten Planungsmethoden umso dringlicher sei.

Auf diese Weise kultivieren wir die Profession des Tragwerksplaners. Wir stellen Fragen: «Was macht die Qualität eines Tragwerkskonzepts aus?», «Inwiefern beeinflussen die gegebenen Rahmenbedingungen das Tragkonzept positiv?», «Welche Werte haben Tragwerke zu erfüllen?» Die Antworten auf solche Fragestellungen sind für die Arbeit der Ingenieure notwendig, für das Projekt bereichernd und letztlich auch fruchtbar für eine gute Baukultur. Denn sie sind wichtige Bausteine zur Entwicklung eigener Haltungen und sie sind die Quelle für neue Idee und Lösungsansätze.

Insbesondere im sorgfältigen Umgang mit Bestandstragwerken sind solche Aussagen Grundlage für eine fundierte Weiterentwicklung. Dazu gehören die Evaluation des Tragsystems – also die Anordnung der tragenden Bauteile und ihre Art des Zusammenwirkens –, die wichtigsten Abmessungen, die wesentlichen Baustoffeigenschaften, die projektprägenden Konstruktionsdetails und die relevanten Informationen zu den vorgesehenen Bauverfahren. Wobei Seelhofer nachdrücklich betont, dass vor allem die Konstruktionsdetails einen wichtigen, aber noch etwas unterbewerteten Bestandteil des Tragwerks ausmachen.

Diskursiv sein, um Diskurse zu führen

Das Tragwerk ist gemäss Norm SIA 260 die Gesamtheit der Bauteile und des Baugrunds, die für das Gleichgewicht und die Formerhaltung eines Bauwerks notwendig sind. Ein Tragwerk soll bei angemessener Einpassung, Gestaltung und Zuverlässigkeit wirtschaftlich, robust und dauerhaft sein. Es sei, so Seelhofer, kohärenter Teil der Gesamtkonzeption und vermöge logisch und stringent ausgebildet, in einer allgemeineren gesamtheitlichen Betrachtungsweise nach Vitruvs Firmitas, Utilitas und Venustas zu allen drei Teilen einen Beitrag zu leisten.

Dabei muss nicht in jedem Fall der Kräftefluss ablesbar sein – wie das Fallbeispiel des Museumdachs des Würth-Hauses in Rorschach exemplarisch zeigt. «Das Tragwerk muss nicht sichtbar sein, um in einem Bauwerk stringent und schlüssig zu sein», sinniert Seelhofer. Wichtig sei vielmehr, zu verstehen, weshalb das Tragwerk so und nicht anders konstruiert wurde. Dies als Ingenieur in einer Publikation oder während einer Begehung erläutern zu können und zu dürfen, ist für das Verständnis wichtig. Denn die Kenntnis über die Geschichte oder das Konzept dahinter öffnet einem die Augen und man beginnt zu begreifen. Erst damit kann schliesslich eine fundierte Reflexion und Kritik stattfinden und können bestehende Bauwerke als Inspirationsquelle für wiederum andere Bauwerke dienen. Erst dann kann ein verstärkter Diskurs stattfinden – wenn die Ingenieure und Ingenieurinnen denn diskursiv sind.

Das fundierte Wissen um die Konstruktion und das sensibilisierte Verständnis um die Arbeit der jeweils anderen Disziplin ist ausserdem der Grundbaustein für einen effektvollen Dialog. Denn Wissen ermöglicht erst, den Dialog konstruktiv zu lenken. «Letztlich bedingt genau dies aber auch, dass Tragwerksplanende verstärkt mit in Hochbauwettbewerben miteinbezogen würden – als Mitglied des Preisgerichts mit Stimmrecht und vom ersten Moment der Konzeption», präzisiert Seelhofer. So können von Anbeginn des Entwurfs die Qualität des Bauwerks angemessen und gesamtheitlich beurteilt werden. Dies auch vor dem Hintergrund, dass bereits bei der städtebaulichen Setzung und Gestaltung der Baukörper die Belange des Tragwerks insbesondere der Fundation und Baugrube zu beachten sind.

«Das Tragwerk wird wie beim Schlotterbeck-Areal in Zürich oder bei der Fernwärmezentrale Waldau in St. Gallen zum konzeptionellen Grundbaustein der Architektur.» Grundsätzlich können so auch Projekte entlarvt werden, die keiner Zusammenarbeit der Disziplinen zugrunde liegen. Sinnhafterweise schaffen es einzig interdisziplinäre Teams bestehend aus Schlüsselakteuren der Disziplinen – namentlich Architektur, Tragwerk und Gebäudetechnik – ein integral abgestimmtes Bauwerk zu realisieren.

Ingeniöses Denken gefordert

Eine gesamtheitliche Betrachtungsweise ist essenziell, um die aktuellen gesellschaftlichen Prämissen wie die Minimierung der Treibhausgas-Emissionen und des Ressourcenverbrauchs erfüllen zu können. Denn Tragwerk inklusive Fundation und Baugrube verursachen einen wesentlichen Teil davon bei der Erstellung − also unmittelbar, mit sofortiger ungünstiger Wirkung − sowie beim Rückbau.

«Können diese herausfordernden zusätzlichen Randbedingungen nicht Impuls für neue innovative und interessante Entwurfsansätze sein?», überlegt Seelhofer. «Allgemeine ganzheitliche Ansätze jenseits von Labels können für Tragwerksplanende eine Chance sein, das Bewusstsein für die Tragwerksplanung zu stärken.» – nebst Werkstoffe mit geringer Treibhausgas-Emission zu wählen, auch die Werkstoffmengen zu minimieren, die Werkstoffeigenschaften effizient zu nutzen, das Aushubvolumen resp. die Massenbewegungen zu reduzieren, eine lange Nutzungsdauer statt eines Ersatzneubaus anzustreben und die Rezyklierbarkeit beim Rückbau oder gar die Kreislaufwirtschaft sicherzustellen.

Das sind alles Aufgaben, die ingeniöses Denken bedingen – stets unter Beachtung des möglichst effizienten Einsatzes der finanziellen Mittel zu Gunsten der angestrebten Klimaziele. Das heisst auch kreativ, erfinderisch und durchaus auch ausgefallen zu sein. Lange Nutzungsdauer durch hohe Nutzungsflexibilität und durch ein kluges Tragwerk zu erreichen, das Lastreserven bietet, die künftig auch genutzt werden. Abzuwägen zwischen Nutzen für Flexibilität und damit verbundenen zusätzlichem Ressourceneinsatz.

Mit konsequenter Systemtrennung zu arbeiten, auch um übermässige Bauteildimensionen zu vermeiden – wie es beispielhaft im Hilti-Office in Schaan umgesetzt wurde –, und Anforderungen an Nutzlasten, an Verformungen, an Schallschutz oder an Schwingungen zu hinterfragen. Ein Geflecht von Überlegungen, die sich im Planungsprozess komplex zu einem Gesamtkonzept verknüpfen. «Kunst ist ein integraler Gedanke», meint Seelhofer denn auch.

Den Überblick zu bewahren ist von fundamentaler Bedeutung. «Tragwerksplanende identifizieren sich mit ihren Beiträgen. Auch sie wollen ihre Entwürfe und Entwicklungen wie die Architekten von Beginn weg begleiten und bis zum Schluss finalisieren», ermahnt Seelhofer. Besteht die Befürchtung, dass der Tragwerksplanende nach dem Wettbewerb nicht beauftragt wird und er seine Entwürfe nicht selber weiterbearbeiten kann, so gehen die wirklichen Perspektive verloren und die verantwortungsvolle Arbeit kommt abhanden. Denkanstösse, die bedenklich stimmen.

Denkanstösse, die aber auch zeigen, dass Tragwerksplanung durchaus ein subjektiv geprägter Prozess ist, der einer Gewichtung von Aspekten zugrunde liegt. So bedeutet Ingenieurbaukunst letztlich wohl auch, den aktuellen baukulturellen und vor allem auch eigenen Wertvorstellungen treu zu bleiben und diese ehrlich, effizient, kreativ und hoffentlich intrinsisch, allenfalls gar idealistisch motiviert oder mit leidenschaftlichem Engagement umzusetzen.

 

25 Jahre Gesellschaft für Ingenieurbaukunst

 

Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, 1995 von Prof. Marti an der ETHZ gegründet, feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass veranstaltet sie eine Reihe von Kolloquien, die seit Herbst 2020 in allen Sprachregionen der Schweiz stattfinden. Ziel dieser Konferenzen ist, das Bewusstsein der kulturellen Bedeutung der Ingenieurbaukunst und ihr Stellenwert für die Tätigkeit des Bauingenieurs und der Bauingenieurin aufzudecken.

 

Seine und ihre baukulturell wertvolle Tätigkeit beschränkt sich nicht auf den pragmatischen Ansatz, die technischen Aufgaben zu lösen. Vielmehr pflegen sie einen reflektierten Umgang mit dem vererbten Bestand an Bauwerken und mit den komplexen Randbedingungen im bereits gebauten Umfeld.

 

Neben dem fundierten Fachwissen sind dafür auch die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung der Bauweisen und das Wissen um die Historie der zu bearbeitenden Standorte wichtig. Nicht selten ergeben sich daraus wertvolle Denkanstösse oder gar innovative Lösungsansätze für die Projektierung und Realisierung neuer Bauwerke sowie für die Erhaltung bestehender Objekte.

 

Die Referentinnen und Referenten beschreiben ihren persönlichen Bezug zur Ingenieurbaukunst an konkreten und für sie beispielhaften Projekten. Giotto Messi von Schnetzer Puskas Ingenieuren tat dies als erster Referent mit seinem Vortrag «Lettre d’un jeune ingénieur» im September 2020 in Fribourg an der HEIA-FR.

 

Neven Kostic von Dr. Neven Kostic GmbH hätte dies als zweiter Referent mit dem Vortragstitel «L‘incertitude et la médiane» Ende Oktober an der EFP in Lausanne getan – diese Veranstaltung musste wegen der Corona-Pandemie aber auf den Herbst 2021 vertagt werden.

 

Dr. Jacqueline Pauli von ZPF Ingenieure bereicherte die Reihe mit ihrem Beitrag «Spektrale Planung» im November 2020 als IBK-Kolloquium über Zoom. In den kommenden Monaten folgen noch weitere Kolloquien – die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst hält sie auf www.ingbaukunst.ch auf dem Laufenden.