Au­to­bahn­pro­jekte in der Stadt

Ende 2020 einigten sich Befürworter und Gegnerinnen des umstrittenen Westastprojekts in Biel, das Tunnelprojekt nicht weiter zu verfolgen. Neben dem politischen Prozess sind vor allem die neuen Empfehlungen zum Umgang mit Hauptverkehrsstrassen im bebauten Kontext interessant. In anderen Schweizer Städten sind vergleichbare Projekte vorgesehen – leider werden dort die gleichen Planungsfehler gemacht. Das Hauptproblem: Städtebau und Verkehr werden losgelöst voneinander behandelt.

Date de publication
02-03-2021

Im Dezember 2020 wurde nach einem langen Dialogprozess entschieden, das Autobahnprojekt A5 Westast in Biel nicht weiterzuverfolgen. Über den Entscheid und den politischen Prozess wurde bereits berichtet. Weniger bekannt sind die Empfehlungen zur Umsetzung, die aus dem Dialogprozess entstanden sind. Allerdings lohnt sich eine vertiefte Betrachtung, denn viele aktuelle Autobahnplanungen machen genau die gleichen Fehler wie das Westastprojekt.

Um lang andauernde, zwecklose und einseitig gedachte Ingenieurplanungen künftig zu vermeiden, braucht es bei grossen Verkehrsvorhaben im urbanen Kontext ein völlig neues Planungsverständnis. Die Empfehlungen aus dem Dialogprozess sind darin wegweisend. Statt eines neuen Autobahnprojekts ist im Bieler Dialogprozess ein integrales Zukunftsbild mit einem passenden Massnahmenpaket entstanden. Die Aussagen im Zukunftsbild und in den Massnahmen sowie Empfehlungen lassen sich grob in vier Handlungsthemen gliedern.1 Diese Themen werden zwar heute leider kaum beachtet, sie sind jedoch nicht nur für die Region Biel, sondern auch für Verkehrsvorhaben in anderen Agglomerationen relevant.

  • Integrale, gleichwertige Behandlung von Städtebau und Verkehr: Wenn Verkehrsprojekte Siedlungsgebiet tangieren, darf der Städtebau nicht nur eine Begleitplanung sein, so wie es beim Westastprojekt hiess, sondern soll von Anfang an integral mitgedacht werden. Dabei gilt es sich bewusst zu sein, dass Stadt und Verkehr einander bedingen. Verkehr ist nicht nur ein Problem, sondern er hat auch positive Eigenschaften. Jedoch nur mit einem integralen Entwurf von Stadt und Verkehr kommen Synergien zum Tragen.
     
  • Massstabsübergreifende Planung: Einerseits hat ein einzelner grosser verkehrlicher Eingriff in einem urbanen Umfeld immer grossräumige Auswirkungen. Statt einer isolierten Behandlung des Verkehrsbauwerks ist darum der Gesamtkontext zu betrachten. Andererseits soll ein grosses Verkehrsprojekt mehrere Funktionen übernehmen. Oft steht nur die übergeordnete Funktion im Vordergrund. Beim Westast ging es in erster Linie um die Schliessung einer Lücke im Nationalstrassennetz. Das Projekt sollte aber auch zur regionalen Erreichbarkeit beitragen und positive Auswirkungen auf lokaler Ebene haben.
     
  • Faktor Zeit: Grosse Verkehrsprojekte haben eine lange Planungs- und Bauzeit. Beim Westastprojekt hätten allein die Baumassnahmen 20 bis 30 Jahre gedauert. Aktuelle Probleme würden damit nicht gelöst, die lange Bauzeit würde sogar zu zusätzlichen Problemen führen. Ausserdem fokussieren viele grosse Projekte auf den Endzustand. Aufwärtskompatible Zwischenschritte gibt es nicht, spätere Korrekturen sind nicht möglich. Ein grosser Verdienst des Dialogprozesses in Biel ist die Definition von kurz-, mittel- und langfristigen Massnahmen.
     
  • Projektgrösse: Ein einzelnes, grosses Verkehrsprojekt wie der Westast in Biel ist nicht nur sehr teuer, sondern hat wegen der immensen Auswirkungen auch viele Angriffsflächen. Widerstand und Verzögerungen sind vorprogrammiert. Der Fokus soll darum auf kleinen, zusammenhängenden Bauprojekten liegen. Dazu soll mit Monitoring und Controlling eine vorgesehene Massnahme im Lauf der Zeit auf Zweckmässigkeit geprüft und, falls nötig, angepasst werden. Effizienter, günstiger und umweltverträglicher sind zudem verschiedene nicht bauliche Massnahmen (Verkehrsmanagement, Parkplatzbewirtschaftung, Raumplanung).

Diese Handlungsthemen unterstützen nicht nur den Planungs- und Realisierungsprozess eines grossen Verkehrsvorhabens, sie helfen auch ortsspezifische Verkehrslösungen zu entwickeln. Dafür braucht es Konkurrenzverfahren, wie sie bei wichtigen Architektur- oder Städtebauprojekten üblich sind. Die Suche nach der besten Verkehrslösung soll dabei Teil des kreativen Prozesses sein. Auch zeigt der Dialogprozess den Wert einer Mitwirkung. Offensichtlich kommen nur so Themen auf den Tisch, die sonst vernachlässigt werden.

Schliesslich stellt sich die Frage, ob grosse Verkehrsbauwerke, besonders für den Autoverkehr, überhaupt noch kompatibel sind mit der attraktiven, dichten, klimagerechten Stadt. Die immer grösseren Fahrzeuge, höheren Sicherheitsanforderungen und strengeren Verkehrskriterien führen zu immer mehr Platzbedarf und zur Dominanz des Verkehrs. Der Prozess in Biel hat diesbezüglich eine Grenze aufgezeigt, die auch in anderen Städten erreicht ist. Der Entscheid zum Westast soll darum Anlass sein, stadtkompatible Verkehrsnormen zu entwickeln und die Mobilität in der Stadt grundsätzlich zu überdenken.
 

Han van de Wetering ist Städtebauer und Partner von Van de Wetering Atelier für Städtebau, Zürich. Er begleitete zusammen mit dem Verkehrsplaner Fritz Kobi den Dialogprozess als ständiger Experte.

Anmerkung

1 Im Schlussbericht und Expertenbericht zum Dialogprozess sind das Zukunftsbild, die Handlungsthemen und Empfehlungen ausführlich beschrieben. Die Dokumente sind auf https://westast-dialog.ch/de/abschluss/ abrufbar.

Weiterlesen zum Thema

Projekt Westast


Vergleichsprojekt Wettbewerb «Am Zoll Lörrach / Riehen»

 

TEC21 20/2008 «Umsteigepunkte»