«Die meis­ten Fahr­zeuge sind Steh­zeuge»

Nun ist es da: das Merkblatt SIA 2060 Infrastruktur für Elektrofahrzeuge in Gebäuden. Jules Pikali, Vorsitzender der Arbeitsgruppe SIA 2060, gibt Auskunft über das Merkblatt und erklärt, warum Fahrzeuge kaum fahren und was das für die Elektromobilität bedeutet.

Date de publication
25-06-2020

SIA: Herr Pikali, eine ketzerische Frage: Warum hat es so lang gedauert, bis das Merkblatt SIA 2060 verfügbar ist?

Jules Pikali: Das hat es nicht. Wir haben einen starken Druck des Markts gespürt. Die Akteure, die planen und bauen, haben ein grosses Bedürfnis nach solchen Unterlagen – deshalb wohl das Gefühl, es habe ewig gedauert. Wenn man die Entstehungsdauer aber mit der von Normen und anderen Merkblättern vergleicht, hat die Kommission gut gearbeitet.

Andere, allen voran Swiss eMobi­lity, haben bereits eine Reihe von Merkblättern veröffentlicht. Inwiefern unterscheidet sich das Merkblatt SIA 2060 von diesen?

Der SIA hat nicht die Aufgabe zu informieren oder aufzuklären, sondern die Regeln der Baukunst zu definieren. Ein Merkblatt ist die Vorstufe zu einer Norm, die die Regeln der Baukunst und den Stand der Technik definiert. Wer ein Bau­projekt plant, muss auf gute Grundlagen zurückgreifen können. Das heisst, wenn ein Architekt das Merkblatt verwendet, soll er der Bauherrschaft kompetent Auskunft geben können, wie ein Gebäude für die Elektromobilität auszurüsten ist.

Das neue Merkblatt ist also explizit für Planende gedacht?

Grundsätzlich dient es der Verständigung, damit alle vom Gleichen sprechen. Das Merkblatt ist also Kommunikationsgrund­lage zwischen Bauherrschaft und Planverfasser und jenen, die ein Gebäude ausführen. Ausserdem kann es eine Grundlage für die öffentliche Hand sein, um in Baubewilligungsverfahren ge­wisse Vorgaben zu schaffen.

Wer soll denn nun das Merkblatt genau studieren?

Wenn sich ein Bauherr, Projektentwickler, Architekt oder Elektroplaner mit einem Neu- oder Umbau beschäftigt, bei dem mehr als zwei bis drei Parkplätze be­troffen sind, ist das Merkblatt eine Muss-Lektüre. Wer sich nicht an die Empfehlungen hält, geht das Risiko ein, dass er ein Projekt rea­lisiert, bei dem später festgestellt wird, dass falsch investiert worden ist. Das betrifft nicht nur Wohnbauten, sondern auch Gewerbe- oder Bürobauten.

Ein Beispiel: Eine bestehende Tiefgarage hat 20 Parkplätze. Jetzt will jemand sein Elektroauto mit einer Lade­station platzieren. Die vorhandene elektrische Reserveleistung reicht vielleicht auch noch für ein zweites Fahrzeug, aber irgendwann wird eine Leistungs­bewirtschaftung erforderlich. Es ist darum zwingend, von Anfang an gesamtheitlich zu planen.

Das Problem liegt wohl eher in den bestehenden Mehrfamilienhäusern als bei den Neubauten. Glauben Sie, das ändert sich jetzt mit dem Merkblatt?

SIA 2060 ist ein Merkblatt und keine Norm. Die im Merkblatt enthaltenen Vorgaben sind darum Empfehlungen. Bei Neubauten ist es aufgrund der erwarteten Entwicklung grundsätzlich richtig, diese mit Lade­infrastrukturen auszurüsten. Wir gehen davon aus, dass das bei vielen Neubauten noch nicht der Fall ist.

Bei bestehenden Bauten ist die Situation anders: Diese verfügen bereits über einen elek­trischen Hausanschluss. Die Frage ist darum: Wie viele Fahrzeuge können angeschlossen respektive aufgeladen werden? Allenfalls stellt man fest, dass die bestehende Kapazität nicht reicht. Dann muss der elektrische Anschluss des Gebäudes verstärkt werden.

Das Merkblatt enthält dafür die entsprechenden Berechnungsgrundlagen. Investitionen in die Gebäudeinfrastruktur sind langfristig. Eine langfristige Betrachtung muss immer unter der Beachtung der Nachhaltigkeit erfolgen. Nachhaltig bedeutet: gut für die Umwelt, wirtschaftlich gut und gut für die Menschen.

Stichwort Kosten: Wer trägt die ­Kosten, wenn ein bestehendes Gebäude nachgerüstet werden soll?

Wer die Ladeinfrastruktur nutzt oder eine solche zur Verfügung haben möchte, muss dafür auch aufkommen. Auf welchem Weg gezahlt wird, darüber kann man diskutieren.

Das ist etwa so, wie wenn ich mit 20-Räpplern die Waschma­schi­ne füttere, um zu waschen. Wer aber bezahlt den Einbau der Infrastruktur?

Für die Infrastrukturen muss der Gebäudeeigentümer vorinvestieren. Die Möglichkeit, im Gebäude elektrische Fahrzeuge aufladen zu können, ist dann ein Mehrwert, der über die Miete abgegolten werden kann. Mit der voraussichtlichen Entwicklung der Elektromobilität kann man davon ausgehen, dass ohne Ladestationen die Vermietbarkeit schwierig wird. Es ist auch möglich, dass der Vermieter für den Ausbau einen Contractor engagiert – analog einem Heizungs­contracting.

Können Sie das näher erläutern?

Anstatt die Kosten einer Heizungserneuerung selbst zu tragen, investiert der Contractor. Der Contractor – es sind bereits einige im Markt aktiv – rüstet das Gebäude mit der entsprechenden Infrastruktur aus. Die Bezahlung erfolgt dann indirekt.

Man kann sich auch die Frage stellen, ob die öffentliche Hand Ladestationen subventionieren soll. Denn jeder, der ein ­Elek­troauto fährt, hilft bei der CO2-Verminderung. Wie bei Lenkungsabgaben auf Brennstoffe lässst sich mit Lenkungsabgaben auf Treibstoffe auch eine Wirkung erzielen. Ein Teil der Abgaben kann für die Verminderung des CO2-Ausstosses in Form von Subventionen verwendet werden. Das sind aber politische Entscheidungen, die wir als Fachkommission nicht beeinflussen wollen und können.

Oft werden Ladestationen erst gebaut, wenn die Nachfrage vorhanden ist. Doch wenn es fast keine Lade-Infrastruktur gibt, stagniert auch die Nachfrage nach E-Autos. Wie wird dieser Kreislauf durchbrochen?

Dafür braucht es ein Zusammenspiel aller beteiligten Akteure. Das Bundesamt für Energie hat deshalb 2018 die sogenannte «Roadmap Elektromobilität» ins Leben gerufen. Vertreter der Automobil-, Elektrizitäts-, Immobilien- und Fahrzeugflottenbranche sowie Vertreter von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden verpflichten sich darin, ihren Beitrag zu leisten, damit bis 2022 der Anteil von Elektrofahrzeugen bei den neu zugelassenen Personenwagen auf 15 % steigt. Auch der SIA ist Teil dieser Roadmap. Sein Beitrag ist das neue Merkblatt, mit dem Planungssicherheit geschaffen wird.

Planungssicherheit bezüglich der Infrastruktur für Elektrofahrzeuge …

Mit den Elektrofahrzeugen ändert sich der Betankungsvorgang grundlegend: Eine Elektro­lade­station kann punkto Lade­geschwindigkeit niemals mit einer Tanksäule in Wettbewerb treten. Aber sie hat einen grossen Vorteil: Wir können das Elektroauto überall laden – in jedem Haus, in jeder Garage, am Arbeitsplatz, überall, wo ein elektrischer Anschluss vorhanden ist.

Der zweite Aspekt ist: Die meisten Fahrzeuge sind nicht Fahrzeuge, sondern vielmehr «Stehzeuge», darum ist auch genug Zeit zum Aufladen vorhanden. Anstatt das Fahrzeug bei Bedarf aufzuladen, stecken wir es einfach immer ein, sobald wir es abgestellt haben – unabhängig vom Ladestatus. Das heisst, wir müssen das Fahrzeug nur für den Tagesverbrauch aufladen, der im Durchschnitt deutlich weniger als 50 km beträgt. Das bedingt flächendecke Ladestationen in möglichst vielen Bauten. Aber: Langfristig gesehen ist die Elektromobi­lität keine nachhaltige Lösung für alle Mobilitätsbedürfnisse.

Wieso nicht?

Neben dem Energiebedarf hat die Mobilität, insbesondere der motorisierte Individualverkehr, einen sehr grossen Platzbedarf. Betroffen sind vor allem Städte: Damit die Mobilitätsbedürfnisse abgedeckt werden können, braucht es auch den öffentlichen Verkehr, den Langsamverkehr und auch eine Reduktion der Mobilitätsbedürfnisse.

Das haben Sie auch in dem Statement «Planungssicherheit über die Elektromobilität» auf der SIA-Website geschrieben: «Sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus ökologischer Sicht muss der Vorzug einer gemeinschaftlichen Mobilität und dem Langsamverkehr gegeben werden.»

Ja, genau. Als Ingenieure und Architekten sind wir einer gesamtheitlichen Betrachtung verpflichtet.

Das neue Merkblatt SIA 2060 Infrastruktur für Elektrofahrzeuge in Gebäuden ist Thema eines Webinars von SIA-Form am 6. Juli: Referierende aus der zuständigen SIA-Kommission vermitteln die wichtigsten Inhalte des neuen Merkblatts. Architektinnen, Bauherren und Elektroplaner lernen die Grundlagen der Elektromobilität und Ladetechnik sowie Berechnungsmethoden für Leis­tung und Energie für Ladeplätze kennen. Details und Anmeldung: 
www.sia.ch/form/EMO02-20D

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