Über die Kante ges­cho­ben

Pavillon auf dem Berner Gurten

:mlzd und Tschopp Ingenieure gewannen den Wettbewerb für den Pavillon auf dem Gurten, weil sie ihn über die Hangkante hinausschoben. Die sichtbare Unterkonstruktion ermöglicht die Auskragung und zeigt sich im Unterschied zum Überbau als pragmatischer Rohbau.

Date de publication
24-04-2014
Revision
18-10-2015

Der Gurten ist ein 864m hoher Molasseberg südlich der Stadt Bern. Der seit 1959 autofreie Berner Hausberg ist ab Wabern mit der Gurtenbahn erschlossen und ein beliebtes Ausflugsziel. Die Bahn wurde bereits 1899 erbaut und war einst die schnellste Standseilbahn der Schweiz. Auch heute ist sie mit 8m/s noch relativ schnell und überwindet in nur 5 Minuten eine Strecke von 1059m und eine Höhendifferenz von 267m.1

Mit der Bahn kam 1901 auch das Hotel Kulm. Doch nach der ersten Blütezeit bis 1915 harzte der Betrieb, und 1983 wurde das Hotel geschlossen. Ebenso erging es dem Restaurantbetrieb; zeitweise betrieb die Gurtenbahn gar im Wartesaal einen Imbiss. Zwar stieg die Besucherzahl mit der ­Totalrevision der Bahn ab 1944 – statt nur der Oberschicht kam nun auch die breite Masse auf den Berg. Doch die Infrastruktur hielt der anhaltenden Veränderung nicht stand.2

Mehrere Projekte für eine Neugestaltung des Gurtengeländes scheiterten aus politischen oder finanziellen Gründen. Nur Teilprojekte konnten umgesetzt werden. So beschloss die Stadt Bern als Besitzerin Ende der 1950er-Jahre beispielsweise, die Gurtenmatte, die ab 1937 als Golfplatz betrieben wurde und von Aussenstehenden nicht betreten werden durfte, zum öffent­lichen Naherholungsgebiet umzufunktionieren. 1990 drehte der Wind, und ein ganzheitliches Konzept fand seine Umsetzung. Die Genossenschaft Migros bot an, den Gurten zu übernehmen und für 30 Millionen in­standzusetzen. So weckte das Kulturprozent der Migros Aare den Berg ab 1999 aus seinem Dornröschenschlaf. 

Vom Festzelt zum Pavillon

Die Gurten-Stiftung mit der Migros als Hauptstifterin besitzt seither den «Park im Grünen», und die Migros Aare betreibt ihn. Jedes Jahr resultiert ein Betriebsdefizit in Millionenhöhe, weil viele Veranstaltungen gratis sind; das Migros-Kulturprozent deckt dieses Defizit.3 

Die Nachfrage nach Räumlichkeiten für geschäftliche Anlässe überstieg schon bald das bestehende Angebot. Deshalb stellte die Betreiberin des Restaurants Gurtenkulm ab 2003 regelmässig ein Zelt für Tagungen und Feste auf. Die weisse Blache war von weither sichtbar und nicht nur aus ästhetischer Sicht unzureichend; das Panoramazelt genügte den Ansprüchen an Komfort, Logistik, Betriebswirtschaft und Gebäudetechnik nicht. Darum und weil man saisonal unabhängig sein wollte, sollte ein fester Pavillon das provisorische Zelt ersetzen. 2012 schrieb die Stiftung Gurten-Park im Grünen einen Studienauftrag im Einladungsverfahren mit drei Teams aus. Daraus ging das Siegerprojekt von :mlzd und Tschopp Ingenieure hervor.

An prominenter Lage an der Bergkante

Der neue Pavillon für bis zu 500 Personen steht als gedrungenes Volumen zwischen Bergstation der Gurtenbahn und dem Restaurant Gurtenkulm in grösstmöglichem Abstand zum alten Hotel. Er liegt noch in der Hotelzone, wo Bauten und Anlagen des Gastgewerbes erlaubt sind. Bereits im Jurybericht wurde die Platzierung gelobt: «Mit seiner eingeschossigen, auskragenden und vollverglasten Front gegen Norden setzt sich der Pavillon von der hohen, zurückversetzten und massiven Fassade des Hauptbaus ab und belässt diesem trotz selbstbewusster gestalterischer Ausprägung die Hauptrolle.»

Diese Platzierung wählten die Planenden nicht von Anfang, denn sie hatten Respekt vor dem Ort. Anfänglich noch zögerlich und zurückhaltend, schoben sie den Pavillon erst spät in der zweiten Wettbewerbsstufe radikal über die befestigte Kante der terrassierten Umgebung hinaus. Ein Schritt, der erst recht den Respekt vor dem Ort zum Ausdruck bringt, denn das neue Bauwerk setzt sich so nicht nur vom Hauptbau ab, sondern berührt und beeinträchtigt mit seiner Auskragung weniger die vorhandene Landschaft.

Überbau: Stahlbau, als wäre es ein Möbel

Der eingeschossige Neubau ist allseitig verglast und behält den ephemeren Charakter des Plastikzelts. Die Nordfassade eröffnet den Blick auf die Stadt Bern, den Jura und das Mittelland. Das architektonische und tragwerksspezifische Kernstück des Gebäudes ist ein 22.8  x 15.25m grosser, stützenfreier Raum, der für ­Konferenzen, Schulungen, Versammlungen und Feste nutzbar ist. Über ihm ist ein schwarzer Trägerrost gespannt. Er steht auf gelenkig gelagerten, runden Vollstahlstützen, die, wo sichtbar, glanzvernickelt und, wo verdeckt, gespritzt sind. Ausgesteift wird der Überbau mit 20mm dünnen Zugstangen, die im Raum kaum sichtbar sind. 

Es ist ein Stahlbau, der konstruiert ist, als wäre er ein Möbel für dieses Ausflugs- und Erholungsgebiet. Statt eines für den Stahl typischen Rohbaus erinnert der Rost an eine grossformatige Schlosserarbeit: dünnwandige (d = 8mm Stege, 25mm Flansche), übereck monolithisch geschweisste Kastenträger formen den Rost. Sichtbare Schweissnähte sind flach verschliffen, keine Schrauben sind vorhanden, nur scharfe Kanten. Keine gebäudetechnischen Anlagen oder Leitungen durchqueren ­diese Tragkonstruktion, alle sind in die Randzone verlegt – einzig Lüftungsschlitze im Übergang zu den Aussenbereichen zeugen von dieser Freilegung.

Um den Kernbereich legt sich eine etwa vier Meter tiefe und grundsätzlich transparente Raumschicht – eine Referenz an die Beletage des alten Hotels. Mit einem Vorhangsystem, das aus dem Japanischen inspiriert ist und dem Projekt den Namen «shôji» für verschiebbare Raumteiler gibt, lassen sich Saal und Raumschicht optisch trennen. Es ist keine gleichzeitige Nutzung der unterteilten Räume vorgesehen, weshalb mit dem Trennsystem keine Schallanforderungen erfüllt werden mussten.

In der äusseren Raumschicht sind die Eingänge (zu drei Seiten), Garderobe, der Apérobereich und Nebenräume untergebracht; die Toiletten finden sich ausserhalb des Pavillons im bestehenden Terassensockel. Die vom Trägerrost auskragenden Stahlträger verjüngen sich hier gegen aussen und begleiten so den Blick öffnend hinaus. An ihnen hängt ein Lochblech; im Raum dazwischen ist die gesamte Gebäudetechnik versteckt untergebracht.

Die gesamte Dachkonstruktion wurde vor Ort auf der Bodenplatte verschweisst und nachträglich mit Pneukran und drei Hilfsjochen inkl. Flaschenzügen auf die definitiven Stahlstützen gestellt.

Unterbau: Stahlbau in klassischer Rohbauform

Die Konstruktion des Unterbaus ist als pragmatischer Rohbau konstruiert: Der auskragende Teil der Bodenplatte ist in Verbundbauweise erstellt worden, wobei die Bodenkonstruktion aus konventionellem Stahlbau mit 12cm Überbeton besteht. Die Tragkonstruktion darunter ist in Mischbauweise aus Stahl und Beton­tragelementen, wobei der visuelle Eindruck und die vorgefundene Topografie die Bauweise diktieren - insbesondere bezüglich der Lagerung: Auf der einseitig der alten Stützmauer vorgelagerten Bodenkanzel steht ein hangparalleler Betonriegel, und über der daneben liegenden Mulde kragt eine Betonscheibe aus dem ­Technikraum.

Alle Lasten werden über Pfähle in den Baugrund geleitet, und die ganze Montage erfolgte schwebend über steilem Hang und ohne Gerüst. Baubeginn auf der 840 m ü. M. liegenden und nach Norden exponierten Baustelle war im Oktober 2013, und Ende Juni möchte die Migros Aare den Pavillon bereits in Betrieb nehmen; die Räume sind jetzt schon gebucht. Deshalb war es unabdingbar, das Bauprogramm einzuhalten, auch wenn die Bauzeit in die beiden winterlichen Quartale des Jahres fiel. Es musste also bei ­jedem Wetter gearbeitet werden, weshalb alle Vorkehrungen für ­Winterbaumassnahmen in die Installation einzurechnen waren. Planende und Ausführende waren gefordert, und das Zeitkorsett war eng. 

In der Unterkonstruktion widerspiegelt sich dies in besonderer Weise. Sie ist die Schnittstelle zur vorgefundenen Landschaft und, weil sie auskragt und ihre Fläche sichtbar macht, die sechste Fassade des Bauwerks. Anders als bei den ersten fünf Fassaden, die üblicherweise spät während der Ausführung erstellt werden, blieb bei dieser als letzte gezählten Fassade wenig Planungszeit, da sie als erste und sehr früh in der Bauphase erstellt wird. 

Deshalb und weil sie nicht den Anspruch hat, begangen und begutachtet zu werden, ist sie grund­sätzlich Mittel zum Zweck und ent­sprechend nicht wie der Überbau als feines Möbel konstruiert. Allerdings ist die Unterkonstruktion ein kostbares Mittel zum Zweck, denn sie hebt den Pavillon vom Gelände ab und ermöglicht die herausragende Platzierung des darauf gebauten Möbels. Erst dadurch sorgen ­Architekt Roman ­Lehmann und Bauingenieur Adrian Tschopp schliesslich dafür, dass das unaufgeregte Gelände des Gurtens nicht übermässig angegraben und prahlerisch erweitert wird. Dass die Unterkonstruktion dabei trotz ihrer hoch­wertigen Aufgabe Rohbau bleibt, ist kein Widerspruch, sondern eine Wertschätzung des funktions­gerechten Bauens an sich. 

Anmerkungen

  1. Mehr Infos unter: www.gurtenbahn.ch
  2. Benedikt Loderer, Sonderausgabe Hochparterre, «Aussicht, Landschaft und Architektur: Niedergang, Rettung und Erneuerung des Gurtens», Band 13, 2000.
  3. Berner Zeitung: «Gurten erhält neuen Pavillon», Bern 30.11.2012.
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