An­lei­tung zur Selbs­ter­kennt­nis

Date de publication
06-12-2018
Revision
06-12-2018

Unsere Welt ist so komplex, dass selbst Alltagsverrichtungen zu tiefgründigen philo­sophischen Herausforderungen werden. Beispielsweise der Gang zum Klo. Früher war alles klar: In öffentlichen Bauten gab es Damen- und Herren-WC in einem ausgewogenen Verhältnis – ausser im HIL an der ETH Hönggerberg, wo es zu meiner Studienzeit kaum Damen-WC gab, weil man offen­bar nicht mit weib­lichem Nachwuchs gerechnet hatte, oder im Kino, wo bis heute viele Frauen die Pause in der WC-Warteschlange verbringen, während ihre Begleiter Glacé essen. Item, es war überschaubar. Man wusste, was kam, und wenns nicht passte, kannte man den Schuldigen: den chauvinistischen Architekten.
Heute dagegen gibt es keine Gewissheiten mehr. Als ich die Toilette des MoMA in New York aufsuchte, geriet ich fast in eine Identitätskrise. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Ich bin eine Frau, ja; aber wenn meine kleine Tochter auch muss, sollen wir zu den Frauen oder in die gemisch­te Familienzone? Ab wie vie­len Mit­gliedern sind wir eine Familie? Entscheide du, gemahnt die Tafel.
Es ist das «Erkenne dich selbst!» der alten Griechen, der existenzialistische Ruf zur Eigen­­­verantwortung. Be­stimme deine Identität und steh dafür ein. Erst dann darfst du aufs Klo. Und das Baby, das wickelt sich selbst.
 

Étiquettes

Sur ce sujet