Hollän­dis­cher Hy­brid

Markthalle Rotterdam, Niederlande

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

Date de publication
27-08-2015
Revision
07-01-2016

Rotterdam ist eine Handelsstadt. Zweimal in der Woche verwandelt sich der der Platz über der ehemaligen Binnenrotte am drittgrössten Seehafen der Welt zu einem riesigen Freiluftmarkt. Anbieter aus allen Landesteilen präsen­tieren an mehr als 400 Ständen ihre Waren. Der Markt im Stadtzentrum, zwischen Blaak-Boulevard und Sint-Laurenskerk, bietet einen unüberschaubaren Reichtum an Fischen und exotischen Früchten, die ­Palette reicht vom einheimischen Käse bis zur religiös korrekten Kleidung für die muslimische Frau.

Der ­Rotterdamer Bevölkerung war das nicht genug. 2004 schrieb die Stadtverwaltung einen Investorenwettbewerb für einen Überbauung im Laurensviertel aus, das bislang durch ein Übermass an Büros und Läden ge­prägt war. Das Ziel: innere Verdichtung und die Verbesserung der Lebensqualität im Quartier. Die Ausschreibungsbedingungen sahen deswegen neben Wohnungen auch einen Markt vor, als Ergänzung zum bestehenden. Neue EU-Vorschriften verlangten aus hygienischen Gründen allerdings eine überdachte Variante.

Markthalle – neu interpretiert 

Das Team von MVRDV, das gemeinsam mit dem In­vestor Provast den Wettbewerb gewann, nahm den Anspruch wörtlich und setzte auf ein Hybridgebäude, das wesentlich dazu beitragen soll, das Viertel zu beleben. So errichteten die Rotterdamer an der Seite des Wochenmarkts auf dem sumpfigen Grund der Binnenrotte eine Markthalle, die sich zwar an die grossen Vorbilder in Barcelona und Valencia anlehnt, dabei aber eine völlig neue Typologie schuf.

MVRDV orientierte sich nicht an den spanischen Eisen-Glas-Konstruktionen, sondern wählte ein riesiges Tonnengewölbe mit einer Länge von 120 m, einer Höhe von 40 m und einer Breite von 70 m. Ausserdem waren vier Tiefgeschosse vorgesehen, was einen Aushub von 15 m erforderlich machte. 

Da die Markthalle dort errichtet werden sollte, wo einst der Damm durch die Rotte verlief, war der Boden nass und instabil, der Grundwasserspiegel lag bei 3 m unter dem Strassenniveau. Es galt also, die Baugrube durch Spundwände und ein Fundament aus 2500 Betonpfählen zu stabilisieren. Es folgte ein Stahlbetonrahmen, der die Baugrube zusätzlich bis auf 8 m sicherte und als Tragwerk des 1. Untergeschosses diente.

Derartige Tiefbauarbeiten, eine Spezialität niederländischer Ingenieurtechnik, sind schwierig zu bewerkstelligen, da der auf Spundwände und Stahlbetongerüst wirkende Druck durch Flutung der Baugrube ausgeglichen werden muss. Deshalb führten Spezia­listen die weiteren Aushubarbeiten und die folgende Stahlbewehrung unter Wasser durch, in einem grossen künstlichen See. Mittels schwimmender Kräne wurde die Baugrube weiter ausgehoben, der Einsatz von GPS-Technologie sollte verhindern, dass das bereits bestehende Betontragwerk beschädigt wurde.

Taucher verlegten die Bewehrung für die 1.5 m dicke Bodenplatte. In einem 72-Stunden-Einsatz wurde sie ebenfalls unter Wasser gegossen. Nach Auspumpen der Baugrube erwies sich die Platte, die eine Last von 12 000 kg/m² tragen muss, als wasserdicht. Es folgte die Errichtung der vier Untergeschosse.

So entstand peu à peu die Markthalle der Superlative. Aussergewöhnlich ist die überdimensionale transparente Glaswand an den Stirnseiten des Baus. Es handelt sich um eine Seilnetzfassade, bestehend aus einem Raster vorgespannter, 9 bis 15 cm dicker Stahlseile, zwischen die die jeweiligen Glasscheiben geklemmt wurden. Vergleichbar mit einem Tennis­schläger bilden die Seiten der Fassadenöffnung einen steifen Rahmen, während die Fassade selber beweglich ist und auch schweren Stürmen standhält. Sie kann bis zu 70 cm nach innen gedrückt werden, dabei dehnen sich die Seile um bis zu 4 cm.

Kurz bevor die Markthalle im Herbst 2014 eröffnete, erhielt das Gewölbe den letzten Schliff. Neben dem Detailhandel auf der ersten Ebene überspannt es 96 Marktstände, die alles anbieten – von der rheinischen Currywurst bis zu arabischen Gewürzen, vom holländischen Käse bis zum türkischen Baklava. Einige der Stände sind für temporäre Nutzungen reserviert.

Auf 4500 perforierten Aluminiumpaneelen, 2 mm dick und 152 × 152 cm gross, haben die Rotter­damer Künstler Arno Coenen und Iris Roskam ein computergeneriertes Riesengemälde aufgetragen, das bereits auf dem Vorplatz die Blicke der Passanten auf sich zieht. Das 11 000 m² grosse, nachts erleuchtete Pixelbild «Füllhorn», das an Motive niederländischer ­Barockstillleben erinnert, lässt über den Köpfen der Marktbesucher allerlei Früchte und Gemüse in kräftigen Farben herabregnen.

Keine Luxusinsel

Die Grossform der Markthalle mutet zwar wie ein überdimensionaler Fremdkörper im Rotterdamer Stadtbild an, doch verrät die langjährige Beschäftigung der Architekten mit dem öffentlichen Raum, dass sie sich für eine technisch innovative, an Nachhaltigkeits­kriterien orientierte Architektur begeistern, die den Stadtraum bereichert. Daraus entwickelten sie ihre Vorliebe fürs Hybridgebäude.

Die MVRDV-Losung «Eine Stadt in der Stadt errichten» zielt nicht auf einen massiven Turmkomplex, wie ihn Rem Koolhaas an der Maas hochgezogen hat («De Rotterdam» von
2013). Vielmehr steckte das Rotterdamer Trio Maas, van Rijs und de Vries 228 Wohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen zwischen dem dritten und elften Geschoss in die Flügel des Tonnengewölbes.

Die über dem Detailhandel in den ersten beiden Ebenen gelegenen 102 Miet- und 126 Eigentumswohnungen, 80 bis 300 m2 gross, verfügen alle über eine Terrasse, die sich über die gesamte Länge der Wohnung erstreckt. In der Angebotspalette finden sich Lofts und Maisonettewohnungen; die Hälfte gestatten – hinter dreifach verglasten Scheiben – den Blick aufs quirlige Treiben des Markts. Allerdings sind die oberen Penthousewoh­nungen, die den Bogen schliessen, stark abgeschrägt, da ansonsten der Tageslichteinfall nicht ausreichend gewesen wäre.

Mehr als nur Architektur

Den Rotterdamer Architekten ist es gelungen, eine Stadt im Kleinen zu errichten – mit Marktständen, unter­irdischen Parkgeschossen, einer kleinen, von Kossmann.dejong gestalteten archäologischen Dauerausstellung, Supermarkt, Detailhandel sowie Miet- und Eigentumswohnungen. Alles unter einem Dach. Das Resultat – die Architekten nennen es «24-Stunden-Gebäude» – ist ein kleines holländisches Wunder, das dereinst auch Kulturveranstaltungen einschliessen soll. Schon jetzt ist der Bau aus Rotterdam nicht mehr wegzudenken.

Rotterdam: Stadtentwicklung, Stadtreparatur
Das Laurensviertel, in dem die neue Markthalle steht, war in den vergan­genen Jahrzehnten Schauplatz massi-­ver städtebaulicher Veränderungen: Die seinerzeit einflussreichsten Rotterdamer Architekten Jo van den Broek (1898–1978) und Jaap Bakema (1914–1981) prägten hier nach den verheerenden Bomben­angriffen der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg das funktionalistische Vokabular, das für die Rotterdamer Architektur der Nachkriegsmoderne massgebend wurde. Die beiden Stadtplaner sorgten mit der Fussgängerzone Lijnbaan für einen einprägsamen Mix aus Geschäften und Wohnungen, mit gleichzeitig niedriger Verdichtung. 
Doch im Lauf der Jahre entstand hier – zwischen mittelalterlicher Sint-­Laurenskerk und Blaak-Boulevard – ein modernes Gegengewicht zu den seit den 1990er-Jahren entstandenen Hochhäusern am Maasufer. Ein stadträumlicher Gewinn stellte sich ein, als 1993 damit begonnen wurde, die entlang des Flüss­chens Binnenrotte verlaufende Hochbahntrasse zu untertunneln und die Metrostation Blaak zu bauen. Damit konnte eine Beeinträchtigung des Stadtlebens rückgängig gemacht werden. Denn bereits 1871 musste der Fluss Rotte weichen, damit in der Hochphase der Industrialisierung der den Stadtraum zerschneidende Bahnviadukt, der Rotterdam mit Breda verband, errichtet werden konnte. Viele der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Häuser waren durch die Lage des Viadukts geprägt, da sie allesamt mit der Rückseite zur Binnenrotte standen. Erst nachdem diese Gebäude abgerissen worden waren, bot sich die Chance für eine neue stadträumliche Entwicklung.
Die Rotterdamer Architekten und Stadtplaner Adriaan Geuze und West 8 bauten in den folgenden Jahren den ­Viadukt an der Binnenrotte zugunsten einer unterirdischen Bahnlinie ab und legten den trassenförmigen Binnen­rotte-Platz an, der 1996 fertiggestellt wurde. Durch den neu entstandenen, verkehrsfreien Stadtraum zog sich nun eine breite Schneise über dem Bahntunnel, durch den seither die Rotterdamer Metro verkehrt, vorbei an der Sint-Laurenskerk bis zur Blaak. Westlich davon setzt die neue Markthalle einen städtebaulichen Akzent.

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