Stahl­be­ton, Sei­fen­bla­sen und Mo­del­le

Sergio Musmecis experimentelle Tätigkeit mit Modellen

Noch vor einer Generation waren die heute selbstverständlichen numerischen Werkzeuge für Entwurf, Modellierung und Überprüfung von Kunstbauten nicht allgemein verfügbar. Unorthodoxe, visionäre Ingenieure wie Sergio Musmeci konnten ihre Entwürfe rechnerisch gar nicht zuverlässig über­prüfen – und Versuche 1:1 hätten ihre Möglichkeiten überstiegen. Mit Modell­experimenten konnte hingegen mit vertretbarem Aufwand auch das Trag­verhalten von «unmöglichen» Konstruktionen untersucht werden. Deshalb sind sie für das Werk von Sergio Musmeci von zentraler Bedeutung.

Publikationsdatum
26-04-2012
Revision
25-08-2015

«Man kann sich nicht mit einer Projektierungsmethode zufrieden geben, in der die Verwendung von rationalen Instrumenten auf die Überprüfung beschränkt ist, während die Erfindung der Form willkürlichen oder nur auf die Intuition oder die Erfahrung gestützten Entwurfsakten überlassen wird. Die derzeitige Lücke in Sachen Rationalität zwischen den beiden Planungs­phasen des Entwurfs und der Überprüfung ist absolut inakzeptabel und manchmal sogar lächerlich.»1

Sergio Musmeci wollte das Gleichgewicht der «Rationalität» zwischen den einzelnen Pla­nungs­phasen wiederherstellen, in der Überzeugung, dass die Form des Tragwerks ein zu erreichendes Ergebnis und nicht ein vorgegebener Fakt ist. Daher führte er parallel zu seiner fruchtbaren theoretischen Forschung zahlreiche Experimente durch, die auf dem Einsatz von Modellen verschiedenster Art beruhten: aus Gummi, Zementstein, Holz, Draht, Kunststoff, Seifenlösung, usw. Er setzte diese Werkstoffe aufgrund ihrer besonderen Eigen­schaften immer im engen Dialog mit anderen Analyse- und Berechnungsmethoden ein.

Netze und Stäbe

Eine erste Kategorie von Modellen betrifft die komplexen Untersuchungen diskreter Netze, also der unendlichen Reihe von Knoten, Netzen, Polyedern und «Antipolyedern»2, die Musmeci unter Berücksichtigung der Arbeiten von Buckminster Fuller und Konrad Wachsmann als Teile eines gigantischen Stammbaums erarbeitete. Mit diesen im Massstab 1:1 oder in kleineren Massstäben erstellten Netzen sollten die in mathematische Diagrammen und zweidimensionalen Zeichnungen enthaltenen räumlichen Informationen konkret wiedergegeben werden, um die Wirkung des Konstruktionsdetails in der Realität zu prüfen.

Das Ergebnis war ein Baukasten einsatzbereiter Tragwerkselemente, der gemeinsam mit anderen Untersuchun­gen auch den Ausgangspunkt für die Entwicklung grosser Projekte wie die Brücke über den Lao in Kalabrien (1964) und die Brücke über den Niger in Ajaokuta (1977) bildete. Diese aus vorgefertigten, uniform druck-beanspruchten Stahlbetonstäben bestehenden Tragwerke scheinen, unter anderen Gesichtspunkten, mit den Untersuchungen von Leonardo Mosso aus dem gleichen Zeitraum in Zusammenhang zu stehen.3

Minimalflächen und Membranen

Eine ganz andere Rolle spielen die Modelle, die sich auf Musmecis Untersuchungen der Geometrie des Kontinuums beziehen, insbesondere auf Minimalflächen (eine der Konstanten seines Werdegangs) – die Flächen, die für eine vorgegebene Umrandung mit der geringsten Menge an Material gebildet werden können. Diese Modelle sind mehr als dreidimensionale Visualisierungen theoretischer Spekulationen. Sie spielen vielmehr eine entscheidende Rolle für die Entstehung der Form des Tragwerks, die angesichts der Schwierigkeiten bei der ­analytischen Beschreibung gewisser Geometrien die mathematische Analyse ergänzen und manchmal übertreffen. Ein Beispiel ist das für die Brücke über den Astico bei Vicenza 1965 verwendete Studienmodell. Es besteht aus Schnüren, an denen Gewichte (Schraubenmuttern) hängen. Das Modell wird dann auf den Kopf gestellt, um das dem Belastungsverlauf entsprechende Profil des Tragwerks zu erhalten – ein Wiederaufgreifen der berühmten Seilmodelle von Antoni Gaudí, anhand derer dieser die Form der Bögen seiner Konstruktionen ermittelte.4 Auch Musmecis Zeitgenossen Heinz Isler und Heinz Hossdorf griffen damals auf diese einfache Modellierungstechnik zurück.

Zur Bestimmung des Profils der Tragkonstruktion der Brücke von Tor di Quinto in Rom (1959), die als gleichförmig und isotrop druck-beanspruchtes Membrangewölbe gedacht war, setzte Musmeci zwei verschiedene experimentelle Verfahren ein: ein stark zug-beanspruchtes Gummimodell und Experimente mit Membranen aus Seifenlösung. Die Arbeiten von Robert Le Ricolais, Frei Otto und der Forscher am Institut für leichte Flächentragwerke in Stuttgart hatten bereits gezeigt, dass die Eigenschaften dieser beiden Materialien ideal für Untersuchungen zur Formfindung sind: Gummi «tendiert unter Belastung dazu, die Form der Minimalfläche für einen bestimmten Umfang anzunehmen, und zwar unter gleichförmiger Zugspannung»5. Wird dagegen ein Film einer Flüssigkeit mit hoher Oberflächen-spannung über einen gegebenen Rahmen gespannt, erhält man Minimalflächen, die wie das Gewölbe der geplanten Brücke gestaltet sind, aber mit anderem Vorzeichen der Spannungen, denn der Beton sollte unter reiner Druckbeanspruchung eingesetzt werden.

In vielen Schritten zum Meisterwerk

Musmecis experimentelle Tätigkeit mit Modellen erreichte bei der Planung seines Meisterwerks, der Brücke über den Basento (1967––1976), ihren Höhepunkt. Um die Form des ­dünnen Stahlbetongewölbes zu ermitteln, das als Fläche mit uniformer, aber nicht isotroper Druckspannung konzipiert ist, führte der Ingenieur aus Rom in erster Linie Experimente mit zwischen Baumwollfäden und Drähten aufgespannter Seifenlösung durch.6 Die so erhaltenen Daten wurden dann mit unterschiedlichen Berechnungs-verfahren ausgewertet.7 Auf Grund der ersten, noch approximativen Ergebnisse liess Musmeci ein Modell aus Neopren herstellen. Dieses Material hat im Vergleich zu Seifenlauge mehrere Vorteile: Es ist nicht nur stabiler und ermöglicht die Ausbildung von unterschiedlichen Spannungen in zwei senkrecht aufeinander stehenden Richtungen (wie für das Brückengewölbe geplant), sondern ­erlaubt durch die Aufteilung der Fläche in Quadrate auch eine genaue Messung der Form, die als Reaktion auf die einwirkenden Kräfte entsteht.

Mit dem Nachweis, dass die gemessene Neopren-Fläche mit der durch Berechnungen ermittelten Form übereinstimmte,8 verfügte Musmeci endlich über die erste wahre «Projektierungsfläche», auf der vertiefende und detailliertere Studien, Berechnungen und Prüfungen aufbauten. So wurde die noch im Embryonalzustand befindliche Form des Tragwerks gefunden – noch handelte es sich um eine «namenlose Form»9. Damit ging die Entwurfsphase Schritt für Schritt in die Überprüfungsphase über. Ein drittes Modell aus Methacrylat, das auf der mit Hilfe des zweiten Modells entwickelten Form basierte, bildete zwei Felder der Brücke im Massstab 1:100 (1.4m lang) ab. Es diente dazu, durch Prüfungen des elastischen Ver­haltens einen ersten Beweis für die Richtigkeit der in der Zwischenzeit angestellten Berechnungen zu führen. Für dieses im Modellforschungslabor der Fakultät für Ingenieurwesen der Universität Rom erstellte Modell wurde der Kunststoff zwischen einer Kernform aus Holz und einer Gegenform aus Aluminiumguss warm gebogen.10

Letzte Prüfung am Grossmodell

Als das Projekt zur Realisierung bereit war, forderte der Consiglio Superiore dei Lavori Pubblici (A.d.Ü.: Oberstes Aufsichtsgremium für öffentliche Aufträge) angesichts der Besonderheit des Tragwerks und einiger letzter Zweifel eine weitere Prüfung anhand eines wesentlich grösseren Stahlbetonmodells, das im Istituto Sperimentale Modelli e Strutture (ISMES) in Bergamo gebaut werden sollte. Das ISMES, dessen Präsident damals Pier Luigi Nervi war, war eines der weltweit wichtigsten Zentren für die Tragwerksmodellierung und sein führendes Spezialgebiet waren grosse Modelle aus bewehrtem Mikrobeton; ein Nischenbereich, der sich in Europa seit der ersten Hälfte der 1930er-Jahre insbesondere in Spanien entwickelt hatte, wo Eduardo Torroja die Betonmodelle des Marktes von Algeciras und der Frontón Recoletos in Madrid geschaffen hatte.

In Italien verfolgte insbesondere Nervi diese Forschungsrichtung dank der Zusammenarbeit mit Arturo Danusso, der unglaubliche Modelle im Massstab 1:15 der Konstruktion des Pirelli-Hochhauses (1954––60) und der ­Kathedrale von San Francisco (1963––70) erstellen liess.11 Das vierte, zwei Felder umfassende Modell der Brücke über den Basento wurde im Massstab 1:10 aus Stahlbeton hergestellt. Dabei wurden «so weit wie möglich» alle für die Statik relevanten Details, insbesondere die massstäblich verkleinerte Stahlbewehrung und die entsprechend reduzierten Vorspannkabel, reproduziert. Das 14m lange Modell, dessen Gewölbe nur 3cm stark war, hätte eine Belastung von mehreren Tonnen tragen sollen: ein Meisterwerk in Miniatur, das Musmeci als «Eierschale im Schraubstock»12 bezeichnete. Die daran vorgenommen Prüfungen führten zu mehreren Anpassungen des Überbaus, zu Verstärkungen der Schlüsselstellen des Bogens und zur Erhöhung der Querbewehrung. Darauf folgten weitere Prüfungen und weitere Änderungen bis zur abschliessenden Bestimmung der Bruchlast: vom 29. bis 31. März 1971 wurden die Eigen- und die Nutzlast bis zum Versagen der gesamten Tragkonstruktion erhöht.

Fantasievoll und doch nützlich

Das ISMES-Modell diente als «lebendiges Instrument» und wurde während des Entwicklungsprozesses auf Grund der Ergebnisse laufend verändert. Es spielte nicht nur eine entscheidende Rolle für die Klärung statischer Fragen, sondern ermöglichte die präventive Lösung vieler Probleme, die sonst erst während des Baus aufgetreten wären. Dazu gehörte insbesondere die Schalung, die hohe Anforderungen an die Ausführung stellte. Im ISMES wurde sie unter direkter Aufsicht von Musmeci aus bewehrtem Gips erstellt, so dass Anomalien der Aufzeichnungsdaten während der Herstellung korrigiert werden konnten. Bei Fertigstellung der endgültigen Schalungen wurde auch ein 1:1-Modell aus bewehrtem Gips des Viertels ­eines Feldes hergestellt, das dem Bauunternehmen Edilstrade aus Forlì als dreidimensionale Referenz für die Ausführung auf der Baustelle übergeben wurde.13

An diesem letzten Beispiel zeigt sich, wie schwierig es ist, den Nutzen und den genauen Einsatzbereich jedes einzelnen Modells genau abzugrenzen. Die Modelle liegen zwischen Wissenschaft und Handwerk, zwischen Fantasie und analytischer Strenge und sind als Werkzeuge zu verstehen, die dank ihrer konkreten Tangibilität das vermitteln, was keine ­Formel und keine Zeichnung allein darstellen könnte. Mit diesem herausragenden Modell von ISMES begann jedoch auch der Niedergang der Praxis des Experimentierens mit «konkreten» Modellen. Der Einzug von Computern in die Ingenieurpraxis und die Entwicklung von Finite-Elemente-Berechnungsmethoden (FEM) verdrängten die Modelle nach und nach und ersetzten sie durch im Hinblick auf Zeit und Kosten weniger aufwendige und häufig zuverlässigere virtuelle Abbildungen. Vor seinem frühen Tod im Jahr 1981 nahm Musmeci, der sich auch für die Forschung von Heinz Hossdorf14 interessierte, zu diesen Themen Stellung15 und bewies erneut seine Fähigkeit, unterschiedliche Untersuchungsmethoden im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel zu verbinden: die vollständige Kontrolle über den Prozess der Projektierung.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 18/2012 Sergio Musmeci.

Anmerkungen
1 Sergio Musmeci: «Le tensioni non sono incognite» aus: Parametro, Nr. 80, Oktober 1979, Seite 40

2 Antipolyeder sind Strukturen, die «wie Polyeder aus Ecken, Kanten und polygonalen Seiten bestehen, die jedoch zu viele Polygone für jede Ecke
haben». Sergio Musmeci: «La genesi della forma nelle strutture spaziali» aus: Parametro, Nr. 80, Oktober 1979, Seite 26

3 Auf Modelle, die in erster Linie der Präsentation von Projekten dienen, wird nicht eingegangen

4 Aus: Jos Tomlow: «Das Modell. Antoni Gaudís Hängemodell und seine Rekonstruktion – Neue Erkenntnisse zum Entwurf». Institut für Leichte Flächentragwerke, Stuttgart 1989

5 Sergio Musmeci: «Appalto concorso per il nuovo ponte a Tor di Quinto – Roma» aus: Notiziario di tecnica moderna applicata all'ingegneria civile, Nr. 2–3, September 1959, Seite 4

6 Lange Zeit waren Seifenblasen das einzige Mittel zur Bestimmung der optimalen Neigung von nicht-trivialen Dachkonstruktionen auf Basis von Seilsystemen und Tragbögen. Dazu wurde die Konstruktion als Rahmen aus Draht geformt und dann in Seifenwasser getaucht. Beim vorsichtigen Herausziehen ergab sich das experimentell gefundene Optimum der Form. Durch Fotografie und andere Methoden wurde das Ergebnis fixiert und auf die Konstruktionszeichnungen übertragen. Ein herausragendes Beispiel dieser Methodik ist das Olympiagelände München von Frei Otto 7 Sergio Musmeci: «Ponte sul Basento a Potenza» aus: L'Industria italiana del cemento, Nr. 2, Februar 1977, Seiten 82–83

8 Ebenda, Seite 84

9 Vgl. Rinaldo Capomolla: «Il ponte sul Basento, ovvero l'invenzione di una forma ‹ancora senza nome›» aus: Casabella, Nr. 739–740, Dezember 2005 – Januar 2006, Seiten 13–19. Zur Brücke über den Basento siehe auch Margherita Guccione (Hrsg.): Il ponte e la città. Sergio Musmeci a Potenza. Gangemi Editore, Rom, 2003

10 Vgl. Rinaldo Capomolla: «Il ponte sul Basento di Sergio Musmeci. Il progetto della forma strutturale prima dell'avvento del calcolo automatico» aus: Atti del Primo Convegno Nazionale di Storia dell'Ingegneria. Cuzzolin, Neapel, 2006, Seiten 1143–1152

11 Für einen zusammenfassenden Überblick der von Nervi geschaffenen Tragwerksmodelle wird verwiesen auf: Gabriele Neri: «En miniature: Die Modelle des I.S.M.E.S. in Bergamo» aus: Bauwelt, Nr. 101, Mai 2010, Seiten 20–27

12 Sergio Musmeci: «Ponte sul Basento a Potenza» aus: L'Industria italiana del cemento, Nr. 2, Februar 1977, Seite 86

13 Vgl. Historisches Archiv des ISMES – Seriate (BG): «Viadotto sul Basento. Relazione sulle prove statiche eseguite su modello in cemento armato in scala 1:10» aus: Vorgang Nr. 835, Juni 1971

14 Vgl. Heinz Hossdorf: Modellstatik. Bauverlag GmbH, Wiesbaden und Berlin. Im Archiv Sergio Musmeci im MAXXI in Rom werden einige übersetzte Texte von Heinz Hossdorf aufbewahrt

15 Sergio Musmeci: «Il calcolo elettronico e la creazione di nuove forme strutturali» aus: Maria Zevi (Hrsg.): Il computer nella progettazione. Bulzoni, Rom, 1972, Seiten 147–166

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 18/2012 Sergio Musmeci.

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