Ei­ne Ar­chi­tek­tur des Ab­wä­gens

Nachhaltig und kostengünstig bauen ist nicht einfach. Davon berichtet auch die Architektin Norma Tollmann bei der Besichtigung ihres Erstlingswerks auf dem Basler Lysbüchel-Areal. Für eine Genossenschaft erstellte sie einen auf das Wesentliche reduzierten Wohnungsbau in Hybrid-Bauweise. 

Publikationsdatum
29-04-2024

Auf dem Lysbüchel-Areal ist die Transformation vom Gewerbe- zum Wohnquartier beinahe abgeschlossen. Am Beckenweg, der autofreien Quartierstrasse, ist Ruhe eingekehrt: Hier spielen Kinder, Bewohnerinnen und Bewohner grüssen sich wie in einem kleinen Dorf. Noch vor zwei Jahren reihte sich hier Baustelle an Baustelle. Norma Tollmann ist die Architektin und Ini­tiantin des genossenschaftlichen Wohnprojekts «Stadtkind», das im August 2022 bezogen wurde. 

Das Haus steht auf einer von 15 Parzellen, die die Stiftung Habitat als Grundeigentümerin des Areals mehrheitlich im Baurecht an verschiedene Genossenschaften vergeben hat. Die kleinteilige Parzellierung beruht auf dem städtebaulichen Konzept des Architektur- und Planungsbüros Metron. 

Im Jahr 2018 bewarb sich Norma Tollmann gemeinsam mit ihrem Partner und zwei befreundeten Paaren um das Baurecht. Zwei Jahre später reichte sie das fertige Vorprojekt ein, um als Hausverein in der Genossenschaft Mietshäuser Syndikat aufgenommen zu werden. Die Genossenschaft übernahm das Projekt als Dachgenossenschaft und erhielt das Baurecht für die Par­zelle. Tollmann wurde mit der Planung und Stettler Architekten mit der Bauleitung beauftragt. 

Bauen während der Pandemie

Tollmann erzählt, dass sie aufgrund des besonderen Verfahrens sowohl beim Raumprogramm als auch bei der Gestaltung des Hauses grosse Freiheiten hatte. Ihr oberstes Ziel war es, ein kostengünstiges und gleichzeitig möglichst nachhaltiges Haus zu bauen. «Das war nicht immer ganz einfach, aber ich habe es nach bestem Wissen und Gewissen versucht», gibt sie zu. Obwohl das Gebäude während der Covid-Pandemie gebaut wurde und von der Materialteuerung betroffen war, liegen die Kosten für BKP 2 nur bei rund 2.8 Millionen Franken. Eine 5.5-­­­Zimmer-­­Wohnung mit 115 m2 kostet rund 2750 Franken pro Monat inklusive Nebenkosten und ein Anteilschein etwa 55 000 Franken. 

Der Entwurfsprozess des Projekts sei «von einem ständigen Abwägen» geprägt gewesen, be­richtet die Architektin. Bei jedem Schritt habe sie sich gefragt, ob das Bauteil wirklich gebraucht werde und welche Materialien sinnvoll seien. Das führte beispiels­weise dazu, dass die beiden Maisonettewohnungen als zweigeschossige Hallen in Massivbauweise errichtet wurden. Betondecken sind daher nur in jedem zweiten Geschoss notwendig.

Unbehandelte Materialien

Heute leben sechs Familien mit insgesamt elf Kindern in dem Haus, in dessen Erdgeschoss ein Gewerbe- und ein Gemeinschaftsraum untergebracht sind. Im ersten Obergeschoss befinden sich zwei kleine Wohnungen mit durchgestecktem Grundriss, in den Stockwerken darüber vier grosse Maisonettewohnungen. Die Individualzimmer sind zugunsten eines grossen Familienraums bescheiden dimensioniert.

Charakter und Ausdruck der Räume zeugen von der Absicht, kostengünstiges Wohnen in der Stadt mit ressourcenschonendem Bauen zu vereinen. So wurden die verwendeten Materialien weitgehend unbehandelt belassen: Holz ist Holz, Beton ist Beton und Mauerwerk ist Mauerwerk. Diese Materialien bleiben im Wohnraum sichtbar und verleihen dem Gebäude zusammen mit der Ästhetik des Non-Finito einen starken Ausdruck. Der einfache Ausbaustandard heisst nicht, dass auf Wohnqualität verzichtet werden muss: Die Wohnungen bieten den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit zur individuellen Gestaltung und Aneignung. 

Kompromisse beim Holz

Bei der Besichtigung spricht Tollmann über Nachhaltigkeit und Holzbau. Trotz der Einschränkungen während der Pandemie achtete sie auf die Herkunft des Holzes. Die verwendeten Dreischichtplatten und Konstruktionshölzer sind nach Angaben des Holzbauers ein europäischer Mix, während das Holz für die Riemen der Böden und die Stufen der internen Wohnungstreppen aus der Schweiz beziehungsweise aus dem nahen Ausland stammen. Die Holzbauarbeiten wurden mit den Minergie-ECO-Kriterien aus­geschrieben.

Für ihr Engagement und das Projekt gewann Tollmann einen Förderpreis: Das Wohnhaus «Stadtkind» wurde 2023 mit dem Kaninchen von Hochparterre ausgezeichnet. Der Entwicklung auf dem Lysbüchel-Süd und ihrem Projekt steht sie dennoch kritisch gegenüber. Die Häuser seien insgesamt zu teuer geworden, wodurch die soziale Durchmischung nicht gegeben sei, meint die Architektin und fügt hinzu: «In Bezug auf kostengünstiges und nachhaltiges Bauen hätte ich mir gewünscht, dass noch viel mehr möglich gewesen wäre.» Mit «mehr» meint Tollmann, dass das Potenzial der Aufgabenstellung von der Stiftung Habitat nicht ausgeschöpft werden konnte. Es wären mehr Regulatorien notwendig gewesen, um die Ziele Ökonomie und Nachhaltigkeit besser unter einen Hut zu bringen. 

Bunt gemischte Nachbarschaft

In Kinderschrift geschrieben steht «Rosarotes Haus» auf der mit grossformatigen Dreischichtplatten verkleideten Strassenfassade. Ein liebevolles Bekenntnis zum programmatischen Namen «Stadtkind» und seiner farbenfrohen Fassade. Sie reiht sich in die ebenso bunten und durch unterschiedliche Materialien geprägten Häuserblöcke der Nachbarschaft ein. Zur begrünten Hofseite ist die Fassade durch eine Balkonschicht erweitert. 

Mit dem Projekt «Stadtkind» ist ein idyllischer Wohnort mitten in der Stadt Basel entstanden, und ein Haus, in dem trotz des Anspruchs an Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht auf Wohnqualität verzichtet werden muss. 

Wohnhaus Stadtkind, Basel

 

Auftraggeber
Genossenschaft Mietshäuser Syndikat, Basel


Architektur
Norma Tollmann Architektin, Basel


Bauleitung, Kostenplanung, Mitarbeit Planung
Stettler Architekten, Basel


Realisierung
2021–2022


Kosten
3.3 Mio. Fr. (BKP 1-9)
2.8 Mio. Fr. (BKP 2)


Geschossfläche
877 m2
 

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