Pas­si­vi­tät wört­lich ­ge­nom­men

Sensible Speicher

Das Haus 2226 in Lustenau von Baumschlager Eberle verfolgt einen Lowtech-Ansatz. Betriebsdaten aus zwei vollen Jahreszyklen belegen die ­Funktion des massiven Ziegelmauerwerks als sensiblen Wärmespeicher.

Publikationsdatum
20-11-2015
Revision
27-11-2015

Millenniumpark nennt sich die Gewerbezone im vorarlbergischen Lustenau, in der rund eineinhalb Kilometer von der Schweizer Grenze das Haus 2226 steht. Vermarktungsidee des im Wandel befindlichen Gebiets ist ein zukunftsorienterter Hightechschwerpunkt. Momentan ist die Umgebung eher landwirtschaftlich geprägt, und das Haus 2226 spielt auch nach seinen eigenen Regeln. 

Das für eine gemischte Nutzung vorgesehene Gebäude hat keine Heizung und auch sonst keine aktive Klimatisierung. Diese erfolgt passiv über ein massives Ziegelmauerwerk mit Naturkalkputzfassade und geringem Öffnungsanteil sowie die interne Speichermasse. Auch die Personen und Maschinen in den Räumen werden als klimatisierende Elemente mit einbezogen.

Ein ausgeklügeltes Mess- und Steuerungssystem regelt Temperatur und Luftströme. Es stellt durchs ganze Jahr den Komfort sicher. Der Name 2226 leitet sich von den Celsiustemperaturen her, die allgemein in Innenräumen als behaglich gelten (vgl. SIA 180, ISO 7730). Zeigt das Thermometer einen Wert zwischen 22 und 26 Grad an, fühlen sich die Menschen wohl. 

Für Professor Dietmar Eberle ist das im Spät­sommer 2013 bezogene Haus 2226 Teil des Spätwerks. Sein architektonisches und konstruktives Konzept bildet das Destillat einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Thema «nachhaltiges Bauen». Das Architekturbüro Baumschlager Eberle errichtete das Gebäude im Selbstauftrag und hat auch seine Luste­nauer Niederlassung hier einquartiert.

Architektur als Energiekonzept 

Das Haus 2226 strahlt im Sonnenlicht. Es wurde nach einer Grundierung mit einem Kalkzementgrundputz und einem weissen Sumpfkalkputz verkleidet. Seine Fassade besteht aus einem zweischaligen Wandaufbau aus Ziegelsteinen. Die äussere der beiden ineinander verzahnten Schichten aus 38 cm breiten Hochloch­ziegeln hat eine dämmende Funktion, die Innere trägt die Lasten ab und dient den Betonelementdecken mit Überbeton als Auflager. Der Aufbau ermöglicht eine optimale Nutzung der Gebäudehülle als sensiblen Speicher. Die Wärme der Sonne wird im Mauerwerk gespeichert und zeitversetzt an das Gebäudeinnere abgegeben. 

Im Grunde genommen ist das nicht unterkellerte, sechsgeschossige Volumen ein Würfel mit einer Kantenlänge von 24 m. Die vertikalen Kanten sind gebrochen; zwischen dem zweiten und dritten Obergeschoss wurden die Fassadenebenen zueinander verdreht. Fassadenbereiche erhielten eine kaum merklich konkave Krümmung – eine verhaltene Dynamik tritt zutage. Der Fensteranteil der Fassade ist mit 24 % gering und trägt dazu bei, dass das Hauses vage an einen Wehr- oder Festungsturm erinnert. 

Die Gliederung der Grundrisse passiert durch Wandscheiben und zwei separate Kerne mit dem Haupttreppenhaus respektive dem Aufzug und den Sanitäranlagen. All diese inneren Tragelemente sind ebenfalls aus Ziegelstein. Sie berühren die Aussenwände nirgends (siehe Grundrissplan), sodass sich in jedem Geschoss eine Enfilade entlang der innen wandbündig angeschlagenen Fenster ergeben kann. Die Raumhöhe beträgt im Erdgeschoss 4.21 m, in den übrigen Geschossen misst sie 3.34 m. Man kann somit von Lofts sprechen. 

Alle Geschosse sind mit Hohlraumböden versehen, mit Lattung, Holzschalung, Trittschalldämmung und einem Anhydritestrich als durchgehendem, fugenlosem Belag. Entlang der Innenwände verlaufen holz­überdeckte Kabelkanäle. Über sie lässt sich jede ­
Stelle mit Wasser und Strom erschliessen. Bei Bedarf wird einfach ein Loch in den Anhydritestrich gebohrt und ein Rohr oder ein Kabel durchgezogen.

Ohne grossen Aufwand kann der Belag wieder repariert werden, wenn es geänderte Umstände nahelegen sollten. Viele der genannten Details, insbesondere die helle Farbgebung und die räumlichen Dimensionen, sind natürlich auch relevant für die Klimatisierung des Hauses und sorgen für eine optimale Nutzung des sensiblen Speichers. 

Klimatisierung durch Mauer und Mensch 

Die Pragmatik und die Einfachheit, die das Haus und sein Konzept durchdringen, erstrecken sich auch in den Bereich der Bauphysik und des räumlichen Komforts. Die Fassade ist so konstruiert, dass sie äussere Einflüsse wie Temperaturverhältnisse und Sonneneinwirkung durch ihre Massivität und den heutzutage unüblich niedrigen Fensteranteil selektiv abweist. Die helle ­Farbgebung der Fassade, der niedrige Fensteranteil, die tiefen Leibungen und auch die Dimensionierung der Fenster zielen darauf ab, den Wärmeeintrag durch das Sonnenlicht zu reduzieren.

Nach innen beeinflusst die hohe Speichermasse der Fassade die Raumbedingungen ausgleichend. Die Fenster, sie bestehen aus einzelnen grossen Scheiben, haben weder Läden noch Storen oder Vorhänge. Allein die Verschattung durch die tiefen Leibungen verhindert Blendeffekte und das Aufheizen des Innenraums. Unterstützt durch die hellen Innenwände wie auch den hellen Boden wird eine optimale Lichtausbeute möglich. 

Eine zentrale Rolle bei der Klimatisierung spielt die thermische Speicherkapazität der Wände und Decken. 76 % davon entfallen auf die Geschossdecken, je 12 % auf die Aussen- und Innenwände. Die Raum­abschlüsse nehmen im Winter die Wärme der Nutzerinnen und Nutzer wie auch der Geräte auf und geben sie wieder ab. Im Sommer kühlen sie sich in der Nacht ab und senken die Temperatur während des Tages. 

Falls im Winter der Wärmebedarf durch den normalen Betrieb nicht gedeckt wird, erfolgt die Aktivierung von Leuchten, Kaffee- oder Büromaschinen (Monitore, Drucker) als temporären Heizungsprovisorien. Für manche mag dies simpel und riskant tönen, doch simpel ist es mit Sicherheit nicht. Das Konzept, das in der Beschreibung so einfach klingt, beruht nicht nur auf fundiertem Sachwissen und jahrelanger Erfahrung, seine Ausformung und Proportionierung wurde mithilfe aufwendiger Simulationen ermittelt.

Die stete Betriebsüberwachung ist ein unverzichtbarer Teil der klimatischen Bewirtschaftung. So passiv das Haus in technischer Hinsicht erscheinen mag, sein Zustand wird mittels Computer in jedem ­Moment auf Herz und Nieren geprüft. Sensoren übermitteln für jeden Raum die Temperatur, den CO2- und den Feuchtegehalt der Luft, sowie die Lichtverhältnisse, und auf dem Dach befindet sich eine Wetterstation. Die Resultate der entsprechenden Messungen führen bei Bedarf zu regulierenden Eingriffen. 

Als besonders wichtige Ressource des energetischen Konzepts des Hauses 2226 gilt der Mensch selbst. Laut Eberle wird er in der normalen Energiebedarfsberechnung als eine Art Störfaktor betrachtet und immer konstant gesetzt. Nicht selten wird sein Verhalten getadelt und als Grund genannt, wenn die errechneten Zielwerte nicht eingehalten werden. Im Haus 2226 sind die Nutzerinnen und Nutzer der Ausgangspunkt für energetische Überlegungen, seine Gebäudetechnik reagiert direkt auf ihr Verhalten.

Lüftung: Software statt Hardware 

Ein Leitgedanke, den Baumschlager Eberle mit dem Gebäude verfolgen, lautet: Software statt Hardware bei der Haustechnik. Keine Aggregate und Kanäle, keine Wartungssorgen, keine Probleme beim Rückbau und beim Ersatz technischer Anlagen – diese Zielsetzungen wurden erfüllt. Sie prägen die Architektur und das Erscheinungsbild mit. Die Argumente sind leicht nachvollziehbar, und man glaubt gerne, dass es weniger aufwendig ist, ein Steuerungssystem zu unterhalten oder zu aktualisieren als eine Lüftungsanlage. Ausserdem benötigt Software in der Form von Steuerungen und Messstationen bedeutend weniger Raum.

Die Temperierung des Gebäudes wird durch den sensiblen Speicher ermöglicht und durch die Lüftung gesteuert. Diese Steuerung erfolgt alleine über die vertikalen Öffnungsflügel, die jedes Fenster flankieren. Diese werden aufgrund der Sensormeldungen – also gemäss dem aktuellen Bedarf – durch die Steuerung aktiviert und erzeugen auf jeder Geschossebene eine Strömung, die sowohl die optimale Luftqualität als
auch die gewünschte Temperatur sicherstellt.

In die Erforschung der Strömungsverhältnisse in Räumen, abhängig von der Besonnung, von Druckverhältnissen innerhalb und ausserhalb des Gebäudes, von der Be­legung etc., wurde viel investiert. Erst nach zahlreichen Simulationen liessen sich die Lüftungsöffnungen dimensionieren, die einen Betrieb ohne den Einsatz von zusätzlichen mechanischen Lüftungsanlagen zulassen.

Trotz dieser Rechnerei scheint bei der Bedienung der Lüftungsflügel ein gewisser Spielraum zu be­stehen. Je thermische Einheit sind in Lustenau jedenfalls immer nur zwei der Lüftungsöffnungen für das System notwendig, die anderen drei sind für den Nutzer beliebig zugängig. Die Software ist in der Lage, indi­viduelles Verhalten auszugleichen; individuell geöff­nete Lüftungsflügel schliessen sich, die Leuchte wird ausgeschaltet. 

Prototyp oder Sonderfall?

Mittlerweile wird das Haus 2226 über zwei Jahre genutzt. Im Erdgeschoss befinden sich eine Kunstgalerie und die Cafeteria von Baumschlager Eberle, darüber Büros, auch jene der Bauherrschaft. Das oberste Geschoss ist noch nicht belegt. 10 % der Nutzfläche dürfen für Wohnzwecke verwendet werden. Die beteiligten Architektinnen und Architekten spüren die Wirksamkeit ihres Konzeptes nicht nur am eigenen Leib, sie ­verfolgen sie auch über das Gebäudemonitoring.

Betriebsdaten von zwei vollen Jahreszyklen liegen vor. Das errechnete Szenario hat sich gemäss Baumschlager Eberle bewahrheitet; das Hausklima bewegt sich innerhalb der anvisierten Komfortzone. Die Gebäudemasse als thermischen Speicher zu nutzen, hat sich also in der Praxis bewährt. 

Stellt sich abschliessend die Frage, ob das Gebäude in Lustenau Schule machen wird. Die Aussagen zum Technikkonzept machen klar, dass sich dieses nicht «einfach» kopieren lässt und dass die Zusammenhänge zwischen Form, Dimensionierung, Strömung und ­Regulierung ganz gründlich studiert werden müssen, bevor man sich an ein solches Abenteuer wagt. Das notwendige umfangreiche Wissen im Hintergrund macht das Konzept gewissermassen zum «geistigen Eigentum» ihrer Urheber, das man nicht sofort durchschaut.

Auf Anfrage war von den Architekten zu erfahren, dass unter Beibehaltung der möglichst kompakten Form eine Veränderung des Volumens das Konzept nicht kompromittieren würde. Baumschlager Eberle planen derzeit weitere Bauten, die vom Wissen, das mit dem Haus 2226 erworben wurde, profitieren sollen. 

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft
AD Vermietung OG


Architektur
Baumschlager Eberle Lochau ZT GmbH


Statik
Mader & Flatz Ziviltechniker GmbH

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