Eu­ro­codes, die zu­künf­ti­gen Trag­werks­nor­men

Die SIA-Tragwerksnormen sollen durch die Eurocodes der zweiten ­Generation abgelöst werden. Den Grund für den Wechsel und was dafür spricht, erklärt Hans-Rudolf Ganz, Vorsitzender der ­Projektleitung EC2G, im Interview.

Publikationsdatum
05-03-2024


SIA: Herr Ganz, können Sie kurz die Geschichte der Eurocodes skizzieren?

Die erste Generation der Eurocodes wurde zwischen 2004 und 2007 publiziert, etwa gleichzeitig wie die SIA-Tragwerksnormen, auch Swisscodes genannt. In den vergangenen 20 Jahren fanden aber einerseits zahlreiche technische Entwicklungen statt, beispielsweise in der Baustofftechnologie und den Bemessungsverfahren, andererseits gab es auch weit­reichende Änderungen in der Gesetzgebung und bei den Anforderungen an die Nachhaltigkeit. Deshalb wurde die erste Generation der Eurocodes revidiert. Die daraus resultierende zweite Generation der Eurocodes gibt den aktuellen Stand der Technik in all den genannten Bereichen wieder. Ein weiteres Ziel der Revision waren auch die Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit und die Reduktion der Anzahl der national festgelegten Parameter (NDP).


Soviel ich weiss, war auch die Schweiz an der Erarbeitung der Eurocodes der zweiten Generation beteiligt.

Das stimmt. Die Erfahrung im Projekt EC2G und dem Nachfolgeprojekt EC2G+ zeigte, dass Schweizer Expertinnen und Experten den Inhalt der Eurocodes massgeblich mitgestalten und beeinflussen und so die Zielsetzung der Projektpartner weitgehend erfüllen konnten. Die Arbeiten führten bei der Mehrheit der Eurocodes nochmals zu einer relevanten Konvergenz zu den SIA-Tragwerksnormen.


Wie unterscheiden sich denn die Eurocodes der zweiten Generation von den SIA-Tragwerksnormen?

Wie die SIA-Tragwerks­normen decken die Eurocodes die grundlegenden Themen – Bau­stoffe, Anwendungen, Nachweisverfahren – ab, behandeln diese aber meist detaillierter. Ausserdem gehen sie auf eine Vielzahl von weiteren Themen ein, die für die Planenden ebenfalls relevant und interessant sind, aber in den kompakten SIA-Tragwerksnormen nicht abgebildet werden können.


Und warum werden die SIA-Tragwerksnormen zurückgezogen?

Der Aufwand für die parallele Pflege von zwei in den Grund­lagen, Einwirkungen und Bemessungsverfahren sehr ähnlichen Reihen von Tragwerksnormen ist in der heutigen Zeit nicht mehr vertretbar – und angesichts des deutlich breiteren Geltungs­bereichs der Eurocodes auch nicht sinnvoll. Die Eurocodes sind ein in sich kohärentes Normenwerk, das den aktuellen Stand der Technik in der Tragwerksplanung betreffend Grundlagen der Projektierung, der Einwirkungen und der Bemessungsverfahren wiedergibt und einen innerhalb der Mitglieder des Europäischen Komitees für Normung (CEN) breit abgestützten Konsens darstellt. Wesentlich dabei ist, dass Innovationen und eine zeitnahe Einführung von neuen Erkenntnissen in der Tragwerksplanung weiterhin möglich sind, dank den sogenannten nicht widersprüchlichen, ergänzenden Informationen (NCCI) in den Nationalen Anhängen oder als SIA-Normen und -Merkblätter.


Welche Tragwerksnormen werden durch die Eurocodes der zweiten Generation ersetzt und welche bleiben gültig?

Es ist beabsichtigt, die Tragwerksnormen SIA 260 bis SIA 267 sowie die SIA 269 nach Einführung der Eurocodes und einer ausreichenden Übergangsfrist zurückzuziehen. Andere SIA-Normen und -Merkblätter im Bereich Tragwerke, wie die Reihen SIA 26x/1, SIA 269/x und SIA 118/26x werden nicht ersetzt und bleiben mit einer Aktualisierung weiterhin gültig. Themen der SIA-Tragwerksnormen, die in den Eurocodes nicht vorkommen, werden als nicht widersprüchliche, ergänzende In­formationen (NCCI) erhalten bleiben. Das sind beispielsweise Einwirkungen aus Schmalspurbahnverkehr, Nutzungsvereinbarungen, Projektbasis oder Re­cy­clingbeton – wobei die Aufzählung nicht abschliessend ist.

Je nach Umfang finden sie Eingang durch direkte Aufnahme in den Nationalen Anhang zum entsprechenden Eurocode oder bestehen weiterhin als SIA-Norm. Zudem sind Pro­dukte­normen, Prüfnormen und Ausführungsnormen im Bereich von Tragwerken kaum betroffen, da diese schon heute praktisch ausschliesslich europäische Normen sind.


Was sind die nächsten Schritte?

Sobald die einzelnen Eurocodes vom CEN verfügbar sind, werden sie vom SIA mit einem nationalen Vorwort als SN EN Normen publiziert. Für die Mehrzahl werden anschliessend die nationalen Anhänge erarbeitet, welche die Schweizer Werte für die national festgelegten Parameter (NDP), Informationen zur Anwendung von informativen Anhängen und die nichtwidersprüchlichen, ergänzenden Informationen (NCCI) enthalten, die für die Bemessung von Tragwerken in der Schweiz als wichtig erachtet werden. Ende 2027 ist vorgesehen, alle nationalen Anhänge in einem Paket zu publizieren und damit die Anwendung der Eurocodes der zweiten Generation zu ermöglichen.


Was macht der SIA, damit der Wechsel von einem Normenwerk zum anderen glückt?

Ebenfalls für 2027 sind Einführungskurse zu den Eurocodes geplant. Die Kommission für Tragwerksnormen (KTN) des SIA hat zudem vor, Anwendungsdokumente zu den für die Schweiz wichtigsten Eurocodes zu erstellen, die als SIA-Wegleitungen publiziert werden sollen.


Es gibt auch kritische Stimmen zur Einführung der Eurocodes in der Schweiz, was sind ihre Argumente?

Das meistgehörte Argument betrifft den Umfang der Eurocodes. Die SIA-Tragwerksnormen haben im Mittel einen Umfang von 100 Seiten, die Eurocodes häufig ein Mehrfaches davon. Allerdings decken die Eurocodes einen markant grösseren Umfang von Materialien, Technologien, Nachweisverfahren und Anwendungen ab. Zudem wurde der Navigation in den Eurocodes grosse Beachtung geschenkt. Ist der Inhalt eines Eurocode der Anwenderin oder dem Anwender erstmals bekannt, können die für ihn relevanten Informationen mit den heutigen IT-Hilfsmittel einfach und schnell gefunden werden.

Wichtig für Schweizer Anwenderinnen und Anwender ist, dass bestimmte Schweizer Eigenheiten und das bisherige Sicherheitsniveau mit der Einführung der zweiten Generation der Eurocodes beibehalten werden. Diese Anliegen wurden von allen an der Erarbeitung beteiligten Länder geteilt und berücksichtigt. Länderspezifische Eigenheiten werden mit den national festgelegten Parametern (NDP) abgebildet. Zudem dürfen für Ziffern im Normtext mit der Verbform «darf/dürfen» (Erlaubnis) im nationalen Anhang alternative Verfahren eingeführt werden, allerdings ohne die Norm­ziffern dabei als ungültig zu erklären. Dies gewährleistet, dass Innovationen und neue Entwicklungen durch die Eurocodes nicht eingeschränkt werden.


Gibt es noch weitere Vorbehalte?

Vereinzelt werden auch Bedenken betreffend Einfluss der Eurocodes auf die Schweizer Ingenieurkultur und auf die zu­-künftigen Angebote von Projektierungsleistungen genannt. Durch die Einführung der Eurocodes der zweiten Generation in der Schweiz werden die Prozesse für Ingenieurdienstleistungen im Tragwerksbereich in keiner Weise beeinflusst. Im Gegenteil, sie lassen erfahrenen Ingenieurinnen und Ingenieuren Raum für Innovation und die Anwendung ihrer Expertise. Die detaillierte Kenntnis der Eurocodes eröffnet auch neue Chancen für Angebote von Dienstleistungen im Ausland. Die ausreichende Beachtung der kritischen Argumente ist der KTN aber sehr wichtig. Deshalb ist sie im Austausch mit allen beteiligten Parteien, entweder direkt oder durch Diskussionen in den SIA-Normkommissionen.

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