«Auch an­dere Baus­toffe müs­sen wie­der in Mode kom­men»

Die Baubranche befindet sich im Wandel, wobei Energiethemen in der Erstellung und im Betrieb immer wichtiger werden. Im Wechselspiel mit dem Markt und der Politik passt Minergie seine ­Anforderungen laufend an und entwickelt sich weiter.

Date de publication
01-10-2024


Minergie hat im Herbst 2023 einige Neuerungen lanciert, unter an­derem die Erhöhung der Energieeffizienz, bessere Ausnutzung des Solarpotenzials und Hitzeschutz. Geht Minergie bei solchen Themen voran oder sind es Markt und Politik?

Sabine von Stockar: Minergie ist Vorreiter für den Markt und die Politik. Zum Beispiel haben wir 2017 die Photovoltaik-­Anforderung eingeführt. Damals kannte kaum ein Kanton eine PV-Pflicht; heute haben das alle Kantone in irgendeiner Form. Die Einspeisevergütung war damals noch sehr tief. Jetzt tritt das neue Stromversorgungsgesetz in Kraft, das eine Amortisation der PV-Anlage garantiert. ­Entsprechend fordert Minergie 2023 in Bezug auf PV mehr, nämlich die Installation auf der ganzen Dachfläche. Das ist für die Eigentümerschaften und die Klimapolitik ein Fortschritt.


Neu ist auch die Berücksichtigung der Treibhausgasemissionen in der Erstellung. Wie kam es zu diesem Schritt? 

Die Baubranche hat in den letzten 25 Jahren bei der Betriebs­energie grosse Fortschritte gemacht. Diese möglichst tief zu halten, ist immer noch zentral. Doch wurde die graue Energie, beziehungsweise der Anteil der Emissionen bei der Erstellung im Verhältnis viel wichtiger. Natürlich muss die Industrie die Treibhausgasemissionen bei der Herstellung der Produkte minimieren. Aber die Planenden haben mit der Wahl der Materialien und mit der Gebäudeplanung selbst grosse Hebel in der Hand. Deshalb ist die nächste grosse Aufgabe von Minergie die Minimierung der Treibhausgasemissionen, die bei der Erstellung des Gebäudes entstehen. Minergie-ECO hat schon vor einigen Jahren den Grenzwert für die Treibhausgas­emissionen in der Erstellung eingeführt. Nun geht es darum, die Thematik in einem grösseren Rahmen zu behandeln, um einen Paradigmenwechsel in der Planung zu bewirken.


Um Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen wirksam zu senken, müsste eigentlich mehr mit regenerativen Materialien gebaut werden. Wie fördern Sie das?

Durch die Setzung eines Grenzwerts im Bereich Erstellung wird automatisch ein sehr grosser Hebel für den Einsatz von mehr treibhausgasarmen Mate­rialien wie Holz geschaffen. Weitere regenerative Materialien wie Hanf und Stroh können für die Dämmung eingesetzt werden. Sie sind aber auf dem Markt noch kaum etabliert. Daneben müssen auch andere Baustoffe wieder «in Mode» kommen: Als Ergänzung zu Holz ist zum Beispiel der Einsatz von Lehm sehr interessant. Lehm kann die notwendige Masse bringen, um Themen wie Hitzeschutz und Akustik zu lösen. Zudem ist er für die Feuchtigkeitsregulierung im Raum sehr vorteilhaft. Es geht aber nicht nur darum, das richtige Material zu wählen, sondern auch, mit möglichst wenig Material zu bauen. Denn der nicht benötigte und damit nicht erstellte Kubikmeter, sei es Beton oder Holz, ist der klimafreundlichste Rohstoff, genauso ist es mit einer Kilowattstunde Strom.


Die verschiedenen Vereine und der Bund haben die Gebäude-Labels harmonisiert. Warum war das wichtig?

Die wichtigsten Errungenschaften dieser Harmonisierung sind die klare Positionierung der verschiedenen Labels auf dem Markt und die Einigung bei der Rechenweise der Energie. Das gibt Klarheit und Vergleichbarkeit für Planende. Die Effizienz im Betrieb wurde ausserdem gesteigert, da nun der Verein Minergie für den Betrieb, also die Zertifizierung, Vermarktung und Weiterbildung der Labels, zuständig ist.


Welche Anforderungen gelten bei Bestandsbauten und inwiefern unterscheiden sie sich von denen für Neubauten?

Die Minergie-Anforderungen für die Sanierung sind libe­raler und flexibler als die Neubauanforderungen. Viele Leute wissen nicht, dass es auch eine Zertifi­zierung für die Sanierung bestehender Gebäude gibt. Bei den Sanierungen haben wir 2023 eine PV-Pflicht eingeführt. Bei der Sanierung von Wohnbauten gibt es einen vereinfachten Weg: die Minergie-Systemerneuerung. Generell geht es bei der Sanierung darum, Anreize zu schaffen, möglichst intelligent zu sanieren und Ersatzneubauten zu vermeiden – wegen der Treibhausgasemissionen, die bei der Erstellung eines Neubaus entstehen. Natürlich muss dies situativ be­urteilt werden. Es gibt Fälle in der Stadt, wo verdichtet werden muss und mit Bestandsbauten das gewünschte Ziel nicht erreicht wird.


Was sind die Herausforderungen beim Bauen im Bestand? 

Die Komplexität und das Kapital. Für beide bietet Minergie Lösungsansätze. Mit den Anforderungen gibt es Bauherrschaften und Planenden Orientierung; das Zertifikat ermöglicht Zugang zu Fördergeldern und  Hypotheken mit besseren Konditionen. Ausserdem sind energetische Sanierungen steuerbefreit. Eine aktuelle Studie von Wüest und Partner zeigt auf, dass sich eine energe­tische Sanierung in Bezug auf ohnehin nötige Investitionen in den Werterhalt lohnt. Trotzdem muss das Kapital vorhanden sein und dessen sind sich viele Eigen­tümerschaften beim Kauf einer Liegenschaft nicht bewusst.


Wie wird sich Minergie in den nächsten Jahren weiter­entwickeln?

Themen, die auch nach der Einführung von Minergie 2023 unter Beobachtung stehen, sind die Frage nach einer Pflicht für Fassaden-PV-Anlagen bei grossen Gebäuden, die Minimierung der Treibhausgasemissionen in der Erstellung und die Umsetzung der neuen Anforderungen an den Hitzeschutz. Die grösste Herausforderung ist die saisonale Speicherung. Es ist unklar, ob das auf Ebene der Gebäude gelöst werden kann. Ausserdem entwickeln wir das zusätzliche Zertifikat «Minergie-Betrieb», das die Gebäude nach der Zertifizierung begleitet und dafür sorgt, dass in der Bewirtschaftung das Potenzial des Gebäudes ausgenutzt wird.

Verein Minergie

 

Gründungsjahr: 1998

Vorstand
Fabian Peter, Serge Boschung, ­Christoph Gmür, Roland Graf, Brigitte Häberli-Koller, David Mastrogiacomo, Martin Munz, Ulrich Nyffenegger, Laure-Emmanuelle Perret, Urs Rieder, Prof. Dietrich Schwarz, Franz ­Sprecher, Simone Tocchetti


Geschäftsleitung Deutschschweiz
Andreas Meyer Primavesi, Rahel Giudice, Robert Minovsky, Magdalena Portmann, Christian Stünzi, Sabine von Stockar

Themenschwerpunkte
Entwicklung und Zertifizierung von Gebäudestandards, Raumluft, Energieeffizienz, Hitzeschutz, Performance Gap

 

minergie.ch