«Fi­li­gra­ne Stütz­mau­ern sind pas­sé»

Interview mit Balazs Fonyo, Leiter der Fachgruppe Geotechnik des Astra

Wie wirkt sich das neue Gefährdungsbild auf den Unterhalt bestehender Winkelstützmauern aus? Gehören sie zu den Bausünden der Vergangenheit? Der Leiter der Astra-Fachgruppe Geotechnik gibt Auskunft.

Publikationsdatum
29-09-2016
Revision
30-09-2016
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

TEC21: Herr Fonyo, die Erkenntnisse aus den neuesten Untersuchungen von Winkelstützmauern klingen alarmierend (vgl. «Zerstören, um zu verstehen»). Wie gehen Sie nun mit solchen Bauwerken um?

Balazs Fonyo: Man sollte aus den Ergebnissen der A5 und A9 und den dort festgestellten Ausführungsmängeln nicht gleich Rückschlüsse auf sämtliche Bauwerke ziehen und die Situation schwarzmalen. Dennoch sind diese nicht zu verniedlichen: Knapp dimensionierte Winkelstützmauern mit bedeutender Korrosion der erdseitigen Biegebewehrung am Wandfuss müssen verstärkt werden. 

TEC21: Hat das Astra die kritischen Winkelstützmauern identifizieren können?

Balazs Fonyo: Wir sind dran. Die Tragsicherheit von verankerten Mauern und Winkelstützmauern, die Bestandteil von Unterhaltsprojekten der Nationalstrassen (UPlaNS) sind, ist gut dokumentiert. Die Inventarisierung der Stützwände ausserhalb der UPlaNS wird bis 2018 abgeschlossen sein. Der Korrosionsgrad ist ohne aufwendige Untersuchungen schwierig einzuschätzen, weil die relevante Bewehrung bergseitig liegt und unsichtbar bleibt.

TEC21: In den letzten Jahren haben Sie vorsorgliche Verstärkungsmassnahmen an verankerten Bauwerken ausgeführt. Werden Sie es auch für einzelne Winkelstützmauern tun?

Balazs Fonyo: Bei den mit Stabankern verankerten Wänden hatten wir mit einer Sprödbruchgefahr zu tun, weshalb wir teilweise mit vorgezogenen Massnahmen (VoMa) reagieren mussten. Bei den meisten Objekten, so auch bei den Winkelstützmauern, interveniert das Astra jeweils im Rahmen der UPlaNS-Projekte.

TEC21: Hat es je einen Versagenfall einer Winkelstützmauer infolge von Korrosion am Wandfuss gegeben? Wird dieses Phänomen auch über die Landesgrenzen hinaus fachlich diskutiert?

Balazs Fonyo: Bei den Nationalstrassen in der Schweiz gab es zum Glück keinen solchen Fall. Das Astra unternimmt sehr viel, damit es nicht zu einem Kollaps kommt. Gleichzeitig beobachten wir aufmerksam, was im Ausland passiert. Wir wissen von einem Einsturz in Österreich – die Stützmauer Schönberg an der Brennerautobahn – mit tragischer Konsequenz. Auf unsere Anfrage hin und nach dem fachlichen Austausch mit der zuständigen Fachbehörde zeigte sich jedoch, dass die Korrosion nicht Auslöser des Kollapses war.

TEC21: Dank Risikoanalysen werden die baulichen Inter­ventionen priorisiert. Wie sind die Begriffe «Eintrittswahrscheinlichkeit» und «Gefährdungspotenzial» zu verstehen, die das Risiko definieren?

Balazs Fonyo: Das Gefährdungspotenzial einer Mauer hängt einerseits von ihrer Höhe und ihre Nähe zur Fahrbahn ab, andererseits von der Belegung der Strasse, die als durchschnittlicher täglicher Verkehr (DTV) angegeben wird. Die Wahrscheinlichkeit eines Kollapses hängt von vielen Parametern ab, etwa von der inneren Tragsicherheit des Bauwerks mit ihren Tragreserven, versteckten geotechnischen Reserven, einer funktionstüchtigen Drainage und dem Trag­verhalten in Längsrichtung.

TEC21: Das Gefährdungspotenzial scheint einfach zu erfassen. Wie ermitteln Sie aber die Eintrittswahrscheinlichkeit, wenn der Korrosionsgrad unbekannt ist und ein solches Ereignis nie stattgefunden hat?

Balazs Fonyo: Das ist ein komplexes Thema. An einzelnen Bauwerken werden in der Regel destruktive Untersuchungen ausgeführt. Allerdings sind sie aufwendig und machen bis 10 % des Wiederbeschaffungswerts des Bauwerks aus. Sinnvoll wäre ein Wert zwischen 3 % und 5 %. Eine allgemeingültige Methodik der Risikoanalyse muss noch erarbeitet werden, was zurzeit Gegenstand der Forschung ist. Als erster Schritt planen wir ein neues Merkblatt zur Erhaltung von Winkelstützmauern, das anfangs 2017 publiziert werden sollte. 

TEC21: Können die Winkelstützmauern also aus finanziellen Gründen nicht systematisch überprüft werden?

Balazs Fonyo: Destruktive Untersuchungen betreffen vor allem Winkelstützmauern der hohen Gefährdungsklasse, die zu knappe Tragreserven aufweisen und wo eine Korrosion vermutet wird. Zur hohen Gefährdungsklasse gehören schätzungsweise 500 Bauwerke in unserem Inventar. Alternativ besteht die Möglichkeit, bestehende Mauern präventiv zu verstärken, beispielsweise mit Ankern. Bei Mauern bis etwa 6 m Höhe wird diese Möglichkeit interessant, weil eine solche Massnahme nur ca. zwei- bis dreimal teurer ist als eine destruktive Untersuchung. In solchen Fällen sollte man das Geld lieber gleich in präventive bauliche Massnahmen investieren statt in Untersuchungen, die allein betrachtet keine Erhöhung der Sicherheit mit sich bringen. Bei höheren Mauern sieht das Kostenverhältnis anders aus, hier werden Untersuchungen meistens unumgänglich.

TEC21: An der A5 und A9 wurden 150 Millionen Franken an baulichen Massnahmen für knapp 40 Bauwerke investiert. Für die 500 kritischen Bauwerke reden wir also von Bausummen über einer Milliarde Franken?

Balazs Fonyo: Man darf diese Kosten nicht linear extrapolieren, weil die Mauern an der A9 vielfach über 10 m hoch sind. Doch wir rechnen mit Baukosten von 50 bis 60 Millionen Franken pro Jahr, was etwa 5 % des Unterhaltsbudgets des gesamten Strassennetzes der Astra entspricht. Innerhalb der nächsten 15 Jahre werden wir so rund 800 Millionen Franken in die Erhaltung investieren. Diese Zahl umfasst die Gesamt­investitionskosten für alle Stützmauern, verankerte und nicht verankerte Mauern, inklusive Instandsetzung und Verstärkung. Die Erhaltung von Stützmauern wird in Zukunft definitiv stärker in den Fokus rücken.

TEC21: Werden neue Winkelstützmauern infolge dieser Erkenntnisse anders konstruiert als bisher?

Balazs Fonyo: Ja. Anfang 2016 wurden die geltenden Neubauvorschriften des Fachhandbuchs aktualisiert. Konstruktive Regeln sollen den Übergang Wand–Fundament besser schützen: Kiesnester sind mit einer Mörtelvorlage zu vermeiden und Arbeitsfugen sind beidseitig mit einem Abdichtungsband abzukleben. Eine Mindestüberdeckung der Bewehrung von 55 mm wird verlangt. Zudem empfehle ich die Erhöhung der Arbeitsfuge um mindestens 10 cm durch eine sogenannte Kickerschalung, damit das Salzwasser von der Strasse nicht einfach in die kritischen Stellen eindringen kann. Eine Chromstahlausführung der kritischen Bewehrung im Bereich der Arbeitsfuge ist eine weitere Vorkehrung, die wir bei hohen Mauern auch schon getroffen haben. Bereits seit 2012 wenden wir solche Massnahmen an.

TEC21: Haben sämtliche Winkelstützmauern, die vor 2012 erstellt wurden, eine Schwachstelle am Wandfuss?

Balazs Fonyo: Eine Verallgemeinerung ist schwierig, doch die grosse Mehrheit unserer Mauern wurde zu einer Zeit gebaut, in der man möglicherweise zu wenig auf diese kritische Stelle geachtet hat.

TEC21: Gehören die Winkelstützmauern zu den Bausünden der Vergangenheit? Sollten nun andere Stützmauertypen in Betracht gezogen werden?

Balazs Fonyo: Diese Formulierung scheint mir übertrieben, hingegen gelten die nicht ausgebesserten Kiesnester als Bausünde. Wir müssen zur Einsicht kommen, dass Winkelstützmauern aus den 1960er- und 1970er-Jahren die angedachte Nutzungsdauer von 100 Jahren ohne Verstärkung nicht erreichen werden. Ich möchte aber festhalten, dass es weiterhin möglich ist, dauerhafte Winkelstützmauern zu erstellen. Ein gangbarer Weg wäre eine robustere Bauweise zwischen Winkelstützmauern und Schwergewichtsmauern. Auch alternative Bauweisen wie geokunststoffbewehrte Stützkonstruktionen sollten wir künftig öfter in Betracht ziehen. Dilatierte, filigrane Winkelstützmauern sind hingegen definitiv passé.


UPlaNS-Philosophie

Seit 2008 schreibt das Astra in seiner Unterhaltsplanung der Nationalstrassen (UPlaNS) vor, dass auf ­einem Erhaltungsabschnitt von bis zu 15 km alle Bauwerke geprüft, untersucht, instandgesetzt und wenn erforderlich verstärkt werden. Die Baustelle soll möglichst kurze Zeit in Anspruch nehmen.

Ein Spurabbau ist nur in der verkehrsarmen Zeit zulässig. Nach den Erhaltungsmassnahmen ist auf einem solchen Abschnitt während 15 bis 20 Jahren keine Baustelle mehr vorgesehen. Diesen Ansatz optimiert die Bauabläufe und minimiert die Verkehrsstörung.

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