Ver­dich­te­te Ro­man­tik

Schlotterbeck-Areal: die Architektur

Ein runder Turm mit Wohnungen, die sich zum Licht öffnen? Hohe Hallen, in denen Pilzstützen wie Ungetüme herumstehen? Bei Neubauten ist derlei kaum denkbar. giuliani hönger Architekten und Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure haben die Transformation einer Garage genutzt, um eine aussergewöhnliche Wohnanlage zu errichten.

Publikationsdatum
07-12-2017
Revision
07-12-2017

Umbauten machen heute einen Drittel aller baulichen Eingriffe aus. Ihr Anteil dürfte weiter steigen: Rund 80 % des Schweizer Gebäudeparks sind älter als 25 Jahre und oft erneuerungsbedürftig; zudem gilt es, bestehende Agglomerationen zu verdichten, anstatt das Land weiter zu zersiedeln. Doch Umbauten sind auch anspruchsvoll. Die Eigenschaften der gegebenen Bausubstanz sind nicht immer dazu angetan, die Planerinnen und Planer zu beflügeln; hinzu kommen einschränkende gesetzliche Auflagen, etwa wenn der Altbau unter Denkmalschutz steht oder das vorhandene Volumen nicht mehr bewilligbar, sondern nur dank der Bestandsgarantie zu halten ist.

Aus diesen manchmal schwierigen Ausgangslagen können aber auch Projekte entstehen, deren einzigartige Qualitäten bei Neubauten nicht realisierbar wären. Dann nämlich, wenn die Entwerfenden die Zwänge des Bestands nicht als Einschränkung verstehen, sondern die Unverhandelbarkeit des Gegebenen als Basis nutzen, um Neues zu wagen. Dies gilt auf der Ebene des Objekts ebenso wie im städtebaulichen Massstab, wo die Verdichtung im Idealfall nicht nur mehr Bauvolumen, sondern auch mehr räumliche Qualität und soziale Bezüge generiert.

Ein Beispiel, das diese These aufs Eleganteste bestätigt, ist der Umbau des Schlotterbeck-Areals in Zürich. Der Altbau, eine ehemalige Citroën-Garage, war 1951 als Hauptsitz der Firma C. Schlotterbeck Automobile Aktiengesellschaft an der Badenerstrasse entstanden. Das moderne Beton- und Glasgebäude des Basler Architekturbüros Suter & Suter wurde bis 1960 in mehreren Etappen aufgestockt und mit einem Vorbau an der Badenerstrasse erweitert. Zuletzt bestand es aus einem zylindrischen Rampenbau zur Strasse und einem rückwärtigen, an den Heiligfeld-Park grenzenden Werkstattgebäude. Das Ensemble, das eine hohe architektonische Qualität aufweist, ist im Inventar der schützenswerten Bauten der Stadt Zürich eingetragen und war zu erhalten. Dennoch war es im Sinn der Stadt, an diesem Ort auch starke Veränderungen zu ermöglichen.

Wohnungen statt Werkstätten

Das Schlotterbeck-Areal liegt an der Nahtstelle zwischen der geschlossenen Blockrandbebauung rund um den Albisriederplatz und der offenen Bebauung jenseits des Letzigrabens. Beim aktuellen Umbau wurden die bestehenden Bauten unter Beibehaltung ihres Fussabdrucks in die Höhe gezogen – eine Strategie, die bereits in den 1950er-Jahren mehrfach zur Anwendung gekommen war. Die neuen Aufstockungen sind teilweise beträchtlich. Sie stärken und differenzieren die Volumen, und sie akzentuieren die Präsenz des Ensembles in seiner stadträumlichen Scharnierfunktion, indem sie Bezüge zum nahen und weiteren Kontext herstellen.

Das Rampengebäude wurde zu einem 40 m hohen Turm aufgestockt und übernimmt die Höhe der beiden Wohnhochhäuser der nahen Siedlung Letzigraben-Heiligfeld, die der damalige Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner 1953–1955 erbaut hatte. Der neue, ­zylindrische Turm fungiert als markanter Kopfbau für das Schlotterbeck-Areal, aber auch als Landmark für die Grenze zwischen Badenerstrasse und Heiligfeld-Park. Umgekehrt diffundiert der Park bis an die Strasse hinaus – die Aussenraumgestaltung des Areals führt jene des Parks weiter und stellt mit Baum- und Strauchgruppen eine Verbindung zwischen Park- und Stras­senraum her.

Auch das Werkstattgebäude wurde aufgestockt. Ein zusätzliches Geschoss über die ganze Gebäudefläche schafft eine neue Traufhöhe, die auf das im Südosten benachbarte Brahmshof-Wohnhaus reagiert. An der südwestlichen Baulinie erhielt das Gebäude weitere drei Etagen und erreicht nun rund 25 m; damit bezieht es sich auf die Traufhöhe der vorgelagerten Häuser der Siedlung Letzigraben-Heiligfeld und betont den Übergang vom Park zum Brahmshof.

Mit dem Umbau erfolgte nicht nur eine städtebauliche Neuinterpretation, sondern auch eine Umnutzung des Areals: Neu sind darin 2150 m² Gewerberäume und 104 Wohnungen untergebracht. Wegen der Garagen und Tankstellen, die sie seit Jahrzehnten säumen, gilt die Badenerstrasse zwar als «automobile road» Zürichs, doch zugleich durchquert sie mehrere Wohnquartiere; die Garage auf dem Schlotterbeck-Areal galt in ihrer Entstehungszeit als Fremdnutzung, die einer Aus­nah­mebewilligung bedurfte. Angesichts der Nachbarschaft lag es also auf der Hand, die bestehenden Bauten in Wohnhäuser zu verwandeln. Was jedoch die baulichen Voraussetzungen anging, war es ein abenteuerliches Unterfangen.

Ein Schleier von Vergangenheit

Das geschützte Werkstattgebäude ist 35 m tief und hat unterschiedliche Etagenhöhen, was gewöhnliche Typo­logien von vornherein ausschloss. Die Architekten entwickelten deshalb verschiedene, gemäss den jeweiligen räumlichen Gegebenheiten und Orientierungen differenzierte Wohnungstypen: Lofts mit 4 m hohen Räumen im Parterre, Maisonettewohnungen im 1. und 2. Obergeschoss, Atriumwohnungen in der neu aufgestockten 3. Etage und 2.5- bis 4.5-Zimmer-Wohnungen im Aufbau auf der Parkseite.

Das Tragwerk wurde weitestgehend erhalten. Die Aufstockung um eine Etage war ohne zusätzliche statische Massnahmen möglich, nur im Bereich des Aufbaus auf der Parkseite gibt es pro Geschoss zwei neue Stützen und zwei Querwände. Das bestehende Tragwerk – der letzte Zeuge der industriellen Vergangenheit des Hauses – wurde sorgfältig inszeniert. Die wuchtigen, für grosse Räume und schwere Lasten ausgelegten Pilzstützen blieben sichtbar, auch in den Wohnungen, wo sie als überdimensionierte, skulpturale Elemente die Räume gliedern.

Um für jede Einheit mindestens eines dieser Ungetüme freizuspielen, haben die Architekten die Trennwände der Wohnungen und Gewerberäume gegenüber dem Stützenraster verschoben und die 2.5-Zimmer-Maisonettewohnungen im Längsschnitt versetzt angeordnet. Die Wohnungen reihen sich entlang der Fassaden, durch die grosse Bautiefe ergeben sich in der Mitte des Gebäudes weitläu­fige Hallen. Diese sind, obschon teilweise künstlich belichtet, nicht unfreundlich; die ruhigen Reihen der Pilzstützen verleihen ihnen eine würdevolle Grosszügigkeit. Als rhythmisierende Elemente kommen drei neue, von den Brandschutzvorschriften geforderte Treppenkerne hinzu, die als raumhaltige Körper zwischen den Stützen platziert wurden; im 2. und 3. OG alternieren sie mit den Atrien, die als Lichtkörper in den Raum ragen.

Bemerkenswert ist die heitere, leicht nostalgische Stimmung, die im ganzen Gebäude herrscht. Die Vergangenheit bleibt nicht nur in Gestalt der Pilzstützen präsent. Die alte Fassade – ein feingliedriges, ehedem mit Glas ausgefachtes Betongitter – wurde teilweise erhalten und innen aufgedoppelt; nun erscheint sie im Gegenlicht wie ein Schleier von Vergangenheit zwischen den modernen Wohnungen und der zeitgenössischen Stadt. Auch das innere Material- und Farbkonzept ist voller Andeutungen.

Die tragenden Elemente sind nicht verputzt, sondern betonfarben gestrichen. Im Gegensatz dazu sind die mit Glasvliestapeten bezogenen, weiss bemalten Trennwände über Fugen abgesetzt und bleiben als hineingestellte Elemente erkennbar; ebenso die Küchen, die keine Oberschränke haben und maximal 140 cm hoch sind. Die Farben der Wohnungstüren, Küchenfronten und Steinzeugplatten in den Nassräumen wählten die Wohnungsbesitzer aus einer Kollektion, die auf die Lackfarben der Citroën DS von 1955 zurückgeht.

In den Himmel gewachsen

Der zur Badenerstrasse orientierte Rampenbau, der ursprünglich als Erschliessung des Werkstattgebäudes diente, erhielt neun zusätzliche Geschosse – ein Mehrfaches seiner alten Höhe. Weil die bestehende Trag­konstruktion diese Last nicht hätte aufnehmen können, ist die Aufstockung als völlig neues, tragwerkstechnisch und konstruktiv von der bestehenden Struktur unabhängiges Gebäude konzipiert. Das ist bei aufmerksamer Betrachtung auch von aussen sichtbar: Die Fassaden von Alt- und Neubau schliessen zwar bündig aneinander an, doch ein feiner Spalt weist darauf hin, dass die oberen Geschosse nicht auf den unteren ruhen.

Wie die Statik tatsächlich gelöst ist, ist von aus­sen allerdings kaum zu erraten. Erst im Innern erahnt man, wie das kunstvolle Ingenieurwerk funktioniert. Der Neubau wächst wie ein Baum aus dem Altbau hervor, fast ohne ihn zu berühren: Ein runder, zentraler Erschliessungskern fungiert als Stamm, der leicht abgesetzt aus dem Rampenauge des Altbaus herausragt. Als Wurzelwerk dient ein tragender und aussteifender Fuss, der ins bestehende Untergeschoss eingepasst wurde (vgl. «Virtuos erhöht»).

Wie beim Werkstattgebäude haben die Architekten auch hier einen Weg gefunden, dem Charakter des bestehenden Baus gerecht zu werden. Die ursprünglich für Autos dimensionierte Rampe wird nun als befahrbare Abstellhalle für Velos genutzt. Im oberen Bereich sind mittels Holzpodesten Räume mit ebenen Böden ausgeschieden; belichtet werden sie über vertikale Schlitze, die dem Muster der Schalungstafeln folgend aus der Fassade geschnitten wurden. Im Neubau kragen runde, horizontale Geschossplatten aus dem zentralen Erschliessungskern.

Die Wohnungstrennwände sind aus statischen Gründen gegeneinander versetzt – auch hier sind Tragkonstruktion und Raumkonzept nicht voneinander zu trennen. Die segmentförmigen Wohnungen sind unterschiedlich dimensioniert; doch alle wirken grösser, als sie sind, weil die Räume ihren schmalen Rücken dem Kern zuwenden und sich in Richtung Fassade, in Richtung Licht immer weiter öffnen. Die Wohnungen sind nüchtern materialisiert, manche blicken auf eine raue städtische Umgebung. Trotzdem atmen sie eine Offenheit und Grosszügigkeit, die ihresgleichen sucht.

Projektdaten
 

Auftragsart/Preis: Studienauftrag 2012, 1. Rang
 

Termine: Planung ab 2012, Bauzeit 2014–2017
 

Kenndaten SIA 416: GF 19 930 m², GV 68 620 m3
 

Verhältnis Bestand–neu gem. SIA 416: GF 54.7 % Bestand, 45.3 % Neubau; GV: 60.7 % Bestand, 39.3 % Neubau
 

Nutzung: Gewerberäume: 2150 m2, Anzahl Wohnungen: 104
 

Kosten: BKP 1–9: ca. 95 Mio. Fr. inkl. MwSt.
 

Preise Eigentumswohnungen: Werkhalle 8550–16 200 Fr./m2, Turm 10 820–19 300 Fr./m2
 

Energie: Zentrale Wärmeerzeugung über Gas­­heizung; die Abwärme aus gewerb­lichen und Klima-Kälteanlagen in den Mietflächen wird über ein Rückkühlnetz ins Heizungssystem eingespiesen; PV-Elemente auf dem Dach. Kein Label; die Minimalvorgaben aus dem Energiegesetz wurden um 20 % unterschritten (entspricht den energetischen Anforderungen an Arealüberbauungen in Zürich).

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