Trans­for­ma­ti­on

Wie man einen Steinbruch in ein Gebäude verwandelt: Ökologische und ökonomische Gesichtspunkte machen eine Neubewertung und Rehabilitierung des Natursteins als konstruktives Bauteil interessant.

Publikationsdatum
15-11-2018
Revision
18-11-2018

In der Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich gab es eine Vitrine, die die Ressourcen des Landes vorstellte. Die Bildunterschrift war lakonisch: «Weder Öl noch Kohle, weder Eisen noch Gold – würden wir uns auf unsere Bodenschätze beschränken, müssten wir wie in prähis­torischen Zeiten leben.»2 Damals galten Natursteine, die den grössten Teil des Schweizer Untergrunds ausmachen, offenbar nicht als nennenswerte Ressource. ­Wenige Jahre später wurde dieser lokale Baustoff jedoch neu bewertet. ­Plötzlich wurden die Vorzüge gelobt, insbesondere die hohe Verfügbarkeit, seine einfache Verarbeitung und der unkomplizierte Abbau.3 Im Rahmen der Entwicklung nachhaltiger Rohstoffe sind diese Überlegungen heute erneut von grosser Aktualität.

In der Schweiz spielte der Naturstein immer eine Rolle: Er ist weit verbreitet und hat in einigen Re­gio­nen des Landes eine lange Tradition des Abbaus und der Verarbeitung. Heute kollidiert die Gewinnung einer Bodenressource oft mit der Raumplanung, was den Zugang erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.4 Immer mehr Steinbrüche werden nicht mehr genutzt, sodass die Vielfalt der verfügbaren Steinarten sinkt. Dieses Phänomen wurde durch den Einsatz von Ersatzstoffen, allen voran Beton, begünstigt.

Die für den Abbau attraktiven Vorkommen von Naturstein befinden sich im Tessin (metamorphe Gesteine wie Gneis und Marmor), im östlichen Teil des Mittellands (Sandstein) und in einigen Gebieten entlang des Alpenbogens (silikatische Kalksteine). Die Kalk­steinbrüche im Schweizer Jura jedoch, wo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die meisten mineralgewinnenden Industrien befanden, wurden entweder geschlossen oder für die Herstellung von Bindemitteln (Zementen) umgebaut. Die übrigen Materialien werden heute für die Restaurierung historischer Denkmäler (Sandsteine) oder für die Herstellung von Fassadenverkleidungen (Hartgesteine) verwendet.

Dabei werden die Steine, die für Fassaden geeignet sind, oft nach ästhetischen Kriterien wie der Gleichmässigkeit der Textur ausgewählt, sodass nur wenige Blöcke infrage kommen. Dabei weisen sie mechanische Eigenschaften auf, die es auch erlauben würden, sie als Baustoffe für Tragwerke und selbsttragende Fassaden einzusetzen. Eine solche Verwendung und die damit verbundene neue Wertschätzung von Naturstein können zu einer effizienteren Nutzung des Rohstoffs beitragen.

Cradle-to-cradle

Das Bauen mit massivem Naturstein entspricht allen drei Säulen der Nachhaltigkeit (Umwelt, Wirtschaft und Soziales): Die Verarbeitung von Stein belastet die Umwelt relativ wenig, da er sowohl eine Materie als auch ein Material ist; er muss nicht umgewandelt, sondern nur verarbeitet werden, so wie es bei auch bei Vollholz der Fall ist. Darüber hinaus ermöglicht die Verwendung als massives Material eine vollständige Nutzung der abgebauten Ressource; das verringert den Produk­tionsdruck auf die Steinbrüche und damit die Auswirkungen auf die Landschaft. Sein hohes spezifisches Gewicht macht Stein zu einem ausgezeichneten Energiespeicher. Gebäude können mit einer thermischen Trägheit gebaut werden, die die ­täglichen Temperaturschwankungen dämpfen und die Sonneneinstrahlung passiv nutzen. Natursteinmauerwerk wird im Kalkmörtelbett verlegt, wodurch die ­Demontage und Wiederverwendung gewährleistet ist.

Eine ganze Reihe von Aspekten untermauert die Nachhaltigkeit von Massivstein im Bau: Der wirtschaftliche Mehrwert liegt in seiner lokalen Verfügbarkeit, die nicht nur den Erhalt von ­Bautraditionen sichert. Vor allem bietet er den alt­eingesessenen Industriebetrieben, auch in ­geografisch entlegenen Gebieten, eine Zukunft. Darüber hinaus ­reduziert der Einsatz grosser vorfabrizierter Elemente die Montagezeit und die Baukosten. Da diese ausserdem nahezu trocken verbaut werden, also keine nennens­werte Trockenzeit erforderlich ist, und weil sie ihre tragende Funktion ab dem Zeitpunkt der Installation auf der Baustelle übernehmen können, entfallen weitere Übergangszeiten.

Entgegen der landläufigen Meinung ist ein massiver Steinbau auch kostengünstiger als ein ähnlicher Baukörper, der mit dünnen Natursteinplatten verkleidet ist.5 In sozialer Hinsicht schaffen Steinbrüche und Verarbeitungs­betriebe qualifizierte Arbeitsplätze. Und abseits von allem praktischen Nutzen spiegeln Natursteingebäude das Territorium wider, auf dem sie stehen. Das wirkt identitätsstiftend. Schliesslich sei auch an den pädagogischen Wert dieses Materials erinnert, das es Architekten in der Ausbildung beispielhaft ermöglicht, die Grundlagen ihrer Disziplin zu vertiefen: Komposition, Proportion, Schatten und Licht.6

Sichtbare Systematik

Die genannten Gründe zeigen, dass dieses Material von aktuellem Interesse ist, insbesondere bei massiver Verwendung. Der in der Schweiz abgebaute Naturstein ist von so hoher technischer Qualität, dass er für normale Bauarbeiten verwendet werden kann. Im Wohnungsbau kann Vollsteinmauerwerk in Gebieten mit geringer Erdbebengefahr in bis zu sechsgeschossigen Gebäuden für Stabilisierung sorgen.7 Eine solche Klassifizierung gilt für den grössten Teil des Mittellands und für das Tessin.8

Dies steht in perfekter Übereinstimmung mit dem, was der französische Architekt Fernand Pouillon nach seinen Erfahrungen über das Bauen mit Naturstein­blöcken in seinem Text «Pierre Prétaillée» bereits formuliert hat: «Für mich wäre der Bau eines Flughafen­terminals aus Stein Schwachsinn, wenn nicht sogar Wahnsinn. Aber beim Bau von mehrstöckigen Wohnhäusern mit drei Räumen plus Küche sich dynamische Strukturen aufzuzwingen ist nicht weniger absurd.»9

Gesteine, insbesondere der Gneis, weisen höhere Druckfestigkeitswerte auf als Normalbeton und wurden daher schon immer für Ingenieurwerke wie Brücken verwendet. Heute kann nicht nur die Biegefestigkeit mittels vor- oder nachkomprimierter Strukturen erhöht werden, auch die Vormontage von Elementen im Labor ist möglich geworden, sodass die durch die natürliche Grösse des Steinbruchblocks vorgegebenen Dimensionen keine Begrenzung mehr darstellen.10

Derartige Blöcke erfordern im Allgemeinen keine zusätzliche Oberflächenbehandlung oder Beschichtung. Selbsttragende Fassadenverkleidungen sind ebenfalls als massive Steinkonstruktionen zu betrachten. Diese Nutzungsform reduziert die Spitzen und die ­Grös­se der Anker im Vergleich zu belüfteten Natur­­steinfassadensystemen, hat je nach gewählter Natursteinart eine vergleichsweise hohe Lebensdauer und bietet dem Planer nebenbei ein breiteres Spektrum an Oberflächengestaltungen, insbesondere solche mit Rissen oder ­hoher Rauigkeit.

Einschränkung als Herausforderung

Die heutigen Massivsteinkonstruktionen können nicht übergreifend analysiert werden. Die Einheit besteht in der Verwendung als tragendes Material – aber bereits die damit verbundenen Bautechniken sind so unterschiedlich wie die Konstruktionsdetails. Stein ist ein zeitgenössisches Material, weil er auf die dargestellten Bedürfnisse in verschiedenen Baubereichen reagieren kann. Eine Reihe von Wohnprojekten ist direkt von den Erfahrungen des oben genannten Fernand Pouillon ­inspiriert, die durch die Arbeit von Gilles Perraudin (vgl. «Schlicht und genügsam») und einer neuen Generation französischer Architekten aufgenommen und erweitert wurden: Das statische Einbinden von Massivstein in grossen Formaten, die Reduktion von Kosten, Bau- und Montagezeiten vor Ort und schliesslich die Entwicklung eines ausdrucksstarken «Vokabulars» überzeugen.11

Ein möglicher gemeinsamer Nenner all dieser neuen Projekte ist nicht nur das Material, sondern auch eine Einstellung zum Projekt und zur Konstruktion, denn wie Paul ­Schmitthenner sagte: «Es geht nicht darum, Formen zu erfinden und dann nach Materialien und Techniken zu suchen, die für sie geeignet sind, ­sondern mit den möglichen Techniken und Materia­­lien die funktionellste und damit auch schönste Form ­
zu finden.»12

Übersetzung aus dem Italienischen: Hella Schindel

Anmerkungen

  1. Freie Anpassung einer Passage aus dem Text von ­Paul Valéry, Eupalinos ou l’Architecte, Paris 1945, S. 104.
  2. Hans Hoffmann (Hrsg.), Heimat und Volk – Le pays ­et le peuple – Il paese e il popolo – Pajas e pövel, Zürich 1939.
  3. Ernst Reinhart, a cura di, paesaggi ed edifici. Vol. III: La pietra e la pietra, Bern/Basel/Olten 1945.
  4. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Essay von Guillaume Habert in Archi 5/2018.
  5. Dimitra Ioannidou, Stefano Zerbi und Guillaume Habert in: When more is better – Comparative LCA of wall systems with stone, Building and Environment, No. 82, 2014, S. 628–639.
  6. Für diesen Ansatz steht insbesondere die Lehre von Gilles Perraudin, Alfonso Acocella und Matthew Howell.
  7. Sechs Stockwerke entsprechen der Schweizer Durchschnittshöhe für Wohngebäude, gemäss: Martin Schuler, Atlas des mutations spatiales de la Suisse, Zürich 2007, Kapitel 8.
  8. Norm SIA 261:2014 Einwirkungen auf Tragwerke.
  9. Fernand Pouillon, Mémoires d’un architecte, Paris 1968, S. 174.
  10. Die im Stahlbetonbau bekannte Vor- oder Nachspanntechnik kann auch auf Naturstein angewendet werden. Dieses Material hat unter anderem den Vorteil, dass es im Lauf der Zeit keinem Schwund unterliegt.
  11. «Architektur bedeutet, mit Rohstoffen eine Beziehung zu ermöglichen, die Emotionen erzeugen.» Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1995, S. XIX.
  12. Paul Schmitthenner, «Über die Möglichkeiten der Stilgestaltung», in: Paul Schmitthenner, Die gebaute Form. Variationen über ein Thema, Mailand 1988, S. 176.
  13. Ökobilanzstudie zu Fassadenvarianten Naturstein und Glas, Deutscher Naturwerkstein-Verband 2014.
  14. SIA Effizienzpfad Energie Statusbericht ­Graue Energie, Büro für Umweltchemie 2004.

Ökologie des Massivsteins

Brechen, schneiden und transportieren: Diese Prozesse prägen die Bilanz der grauen Energie und der Umweltbelastungen von Natursteinprodukten. In Vergleichsstudien mit Fassadensystemen aus Glas oder Metall schneiden Natur­steinabdeckungen teilweise deutlich besser ab.13, 14 Ob man aber Granit oder Kalksandstein verwendet, ist ein wesentlicher Unterschied: Letzterer konsumiert deutlich weniger graue Energie. Die Herkunft der Steine prägt den ökologischen Fussabdruck aber am stärksten; beinahe 50 % davon entfallen auf den Transport. Dieser Befund stammt aus einer Fassadenevaluation, die die Stadt Zürich für den Erweiterungsbau am Kunsthaus durchgeführt hat.
Die Nutzung von Naturstein aus Schweizer Stein­brüchen hat nicht nur ökologische Vorteile, sie kann auch die Verbindung des Bauwerks mit der Region stärken. Überraschenderweise liegt Naturstein bei Boden­belägen hinsichtlich des Verbrauchs an nicht erneuer­baren Ressourcen hinter anderen Oberflächenmaterialien zurück. Positiv zu bewerten ist die Langlebigkeit, denn Natursteinprodukte können in neuen Bauwerken wiederverwendet werden. Die Veredelung mit chemischen ­Sub­stanzen wirkt sich negativ auf die Ökobilanz aus, unbehandelter Naturstein kann hingegen wieder in die Natur eingebracht werden. Weitere Betrachtungen zu ­einem nachhaltigen Lebenszyklus wie Rohstoffeffizienz, U-Wert oder Temperatur­speicherung spielen bei der Ver­wen­dung von Naturstein als tragendes Bauteil eine Rolle, jedoch sind Vergleichswerte und Studien dazu quasi inexistent.1 (Paul Knüsel)

Anmerkung

  1. Stefano Zerbi, Fassaden aus Massiv-Baustein. Chancen und Möglichkeiten; zur Fachtagung NVS Naturstein-Fassaden, Zug, 22. April 2009.
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