Krat­zen für die Ewig­keit

Handwerk Sgraffito

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Publikationsdatum
21-12-2018
Revision
21-12-2018

Sgraffito wird hierzulande praktisch gleichgesetzt mit dem Bautyp des historischen Engadinerhauses. Tatsächlich handelt es sich beim Sgraffito – der Name stammt vom italienischen «(s)graffiare» = ritzen, kratzen – um eine jahrhunderte­alte Technik, die auf der handwerklichen Bearbeitung von Kalkmörtel beruht und in ganz Europa verbreitet ist, teilweise unter anderem Namen oder in einer verwandten Anwendungsweise. In die Schweiz gelangte sie in der Renaissance via Italien und setzte sich hier vor allem im Engadin durch.1

Zum einen lag das an den engen Handelsbeziehungen, zum anderen eigneten sich das trockene Klima sowie die zahlreichen Kalkvor­kommen und deren bereits etablierte Nutzung für die Technik. Zum Erfolg trug aber auch der Bautypus des traditionellen Engadinerhauses bei. Während Sgraffito in Italien vor allem städtische Bauten zierte, trans­formierte es die Wirtschafts- und Wohngebäude der Engadiner Bauern zu repräsentativen Bauten. Deren grossflächige asymmetrische Fassaden, die sich aus der Kombination von Struktur und städtebaulicher Konstellation ergaben, liessen sich mittels Sgraffito gliedern.2

Dazu kam die Konstruktion: Die unregelmässigen Bruchstein- und Strickbauwände wurden mit einer dicken Kalkputzschicht überzogen, die tiefen, abgeschrägten Fensterlaibungen mit weisser Kalktünche betont. So fügten sich hier Fassadengestaltung und Architektur zu einem markanten Bautyp zusammen, dessen Bildhaftigkeit durch Illustrationen in Kinderbüchern wie dem «Schellen-Ursli»3 und durch den ­tradierten Formenkatalog ins kollektive nationale Gedächtnis eindrang und auch heute noch wirkt.

Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk

Für das Engadin typisch sind die grafischen Hell-Dunkel-Motive. In anderen europäischen Regionen ­setzten sich auch mehrfarbige Sgraffiti durch, vor allem ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. So sind reich geschmückte Jugendstilfassaden aus Österreich bekannt, in Deutschland oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion findet man ab den 1930er-Jahren oft politisch angehauchte Motive.

Der Basisaufbau für ein Sgraffito besteht aus einem mindestens 20 mm dicken Grundputz, der Un­ebenheiten des Mauerwerks ausgleicht und eine flächendeckende Haftung gewährleistet. Darüber folgt ein dunkler mineralischer Putz als Kratzgrund. Früher wurde für die Färbung Russ oder Holzkohle verwendet, heute sind es Pigmente. Anschliessend trägt man eine helle Kalkschlämme «al fresco» auf, also solange der Verputz noch feucht und im Abbinden begriffen ist. Sie ist die eigentliche Kratzschicht. Bei bunten Motiven sind es mehrere verschiedenfarbige Schichten.

In die oberste Schicht wird das Motiv als Vorriss geritzt, anschliessend kratzt man die feuchte Kalkschlämme als Linie oder Fläche heraus, sodass der dunkle Grundputz an die Oberfläche tritt und ein leichtes Relief ­entsteht. Als Kratzwerkzeug kann ein einfacher Nagel dienen. Bei mehrfarbigen Sgraffiti ist die Technik schwieriger, da der Bildaufbau umgekehrt werden muss: Zuerst werden die Details angelegt, die Umrisse werden erst zum Schluss sichtbar.

Das eigentliche Kratzen oszilliert je nach Ausführendem und Anspruch zwischen Kunst und Handwerk. So gibt es Motive, die mit dem Zirkel vorgeritzt sind, oder sich wiederholende Formen, die mittels Schablonen aufgetragen werden. Daneben gab und gibt es aber auch immer die freien Zeichnungen, die poetische Motive wie Fabelwesen oder auch künstlerische Interpretationen zum Thema haben, wie man sie aus den 1930er- bis 1960er-Jahren kennt, sowie die typischen Sinnsprüche der Engadinerhäuser. Die Ausführenden waren und sind dementsprechend sowohl Handwerker als auch Künstler, die neben den traditionellen Motiven auch eigene Bildwelten realisieren.

Mehr als Oberfläche

Faszinierend an Sgraffito ist die Verbindung von ­Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit: Durch den Al-fresco-Auftrag nass in nass entsteht ein ephemerer Moment, anschliessend bildet sich durch die Karbonatisierung des Kalkmörtels eine feste Verbindung zwischen Farb- und Putzschicht, was auch das Sgraffito haltbar und witterungsresistent macht. Das Wasser verdunstet, der Kalk verbindet sich mit Kohlendioxid aus der Luft. So wird der Putz wieder zum Ausgangsmaterial Kalkstein, der chemische Kreislauf schliesst sich.

­Heute gibt es vor allem im Engadin zahlreiche über 300-­jährige Sgraffiti in hervorragendem Zustand. Bedroht sind sie gemäss Johannes Florin von der Bündner Denkmalpflege denn auch weniger vom Alterungsprozess als durch Neuerungen. Durch Um- oder Einbauten für heutige Ansprüche ändert sich oftmals das Innenraumklima und damit auch jenes in der Wand, was zu Schäden an den Sgraffiti führen kann. Und natürlich sind die Sgraffiti auch den Launen des Zeitgeists unterworfen: So wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreiche Ornamente im Engadin übermalt, bis in den 1970er-Jahren der Wind kehrte und die historischen Darstellungen wieder hervorgeholt wurden. Das Gute an der Technik: Wird der Putz lediglich übermalt, sind die Ornamente nicht unwiederbringlich verloren.

In den letzten Jahren liessen vor allem in Deutschland energetische Instandsetzungen zahlreiche Beispiele aus den 1950er- und 1960er-Jahren hinter einer Aussendämmung verschwinden, oder sie wurden im Zuge einer Komplett­sanierung zerstört. Auch dies ein Zeichen des Zeitgeists, immerhin waren Fassadenverzierungen um die Jahrtausendwende in der Architektur verpönt, und Aspekte der Energieeffizienz gewannen an Bedeutung. Schliesslich sorgten auch indust­riell hergestellte Materialien und das Aufkommen von ­Wärmedämmverbundsystemen für ein Verschwinden der Technik – Standardisierung, Garantien und Planbarkeit: bekannte Feinde des Handwerks.

Revival? Ja, gern!

Doch wie in vielen anderen Bereichen könnte auch hier die Fusion zweier Herangehensweisen zu einer Weiterentwicklung und damit einer Wieder­belebung des Handwerks führen. Franz Bieri, Putz­experte bei Keimfarben, realisierte zusammen mit dem Architekten Robert Arnold und der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz 2014 ein zeitgenössisches Sgraffito an einem Mehrfamilienhaus in Davos (vgl. «Häuser sollen kommunizieren»). Auf einem ­Mauerwerksuntergrund entschied man sich hier für einen hydraulischen Kalkputz als Grundputz und einen pigmentierten, zweischichtig aufgetragenen feinkörnigen Deckputz mit industriell gefertigten und erprobten Standardprodukten des Unternehmens. Das Sgraffito wurde anschliessend auf traditionelle Art und Weise aufgebracht – das Ergebnis überzeugt in ästhetischer und bisher auch in technischer Hinsicht.

Franz Bieri würde allerdings sogar noch weiter gehen: Seiner Ansicht nach könnte Sgraffito auch auf einem Wärmedämmverbundsystem funktionieren. Beispiele für ein vergleichbaren Putzaufbau bei einer Aussendämmung gibt es bereits – allerdings ohne Sgraffito.4 Bedingung für ein WDVS-Sgraffito wäre eine dickschichtige Netzeinbettung von mindestens 10 mm, um Risse an der Fassade zu vermeiden. Was in der Theorie einfach tönt, verlangt allerdings viel Erfahrung bei der Ausführung: Die Feuchteregulierung der verschiedenen Schichten und der Einfluss der Witterung sind nicht komplett planbar. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine «lebendige», aber eben auch unregelmässige Oberfläche, allfällige Ausbesserungsarbeiten sind gestalterisch anspruchsvoll.

Dennoch: Das perfekte Unperfekte – und damit Einzigartige – in der Gestaltung ist längst wieder en vogue. Das gilt auch für Fassaden. Mutige Architek­tinnen und Architekten sind also herzlich eingeladen, die erste Sgraffitofassade auf einem WDV-System zu planen.

Anmerkungen

  1. Die Angaben zur Sgraffitogeschichte und -technik beruhen auf der Publikation «Sgraffito – eine traditio­nelle Putztechnik im Engadin» von Hartmut Göhler in: Über Putz. Oberflächen realisieren und entwickeln (vgl. TEC21 27–28/2012, S. 11).
  2. Die Engadinerhäuser sind gemäss der romanischen genossenschaftlichen Dorf- und Wirtschaftsorganisation jeweils zu einem Dorfplatz mit Brunnen hin orientiert. Mit ihren beiden Eingängen, dem Eingangstor in den Sulèr (Vorraum zu Stube, Küche, Vorratskammer und Scheune) und der Zufahrt zum Stall an der Stirnseite ergeben sich deshalb unregelmässige Fassadengliede­rungen. Vgl. Duri Gaudenz, «Das Engadiner Haus» in: Hans Hofmann, Unterengadin, Calanda Verlag, Chur 1982.
  3. Dessen Autorin, Selina Könz (auch: Chönz), war die zweite Ehefrau des Architekten Iachen Ulrich Könz und Mutter des Künstlers Steivan Liun Könz. Beide restaurierten historische Sgraffiti im Engadin und fertigten auch eigene Werke an, darunter z. B. die Fassade des Hauses zum kleinen Pelikan an der Schipfe in Zürich (vgl. «Sgraffito und die Familie Könz», Kasten unten).
  4. Vgl. Über Putz. Oberflächen entwickeln und realisieren, gta Verlag, Zürich 2012, S. 86–117.

Vom Kalk zum Sgraffito

Branntkalk ist Calciumoxid, das durch das Brennen von Kalkstein (Calciumcarbonat) in einem Kalkofen entsteht. Durch den Zusatz von Wasser kann er zu Kalkfarbe, Kalkmörtel oder hydraulischem Kalk weiterverarbeitet oder, mit Wasser abgelöscht, als Sumpfkalk gelagert werden.

Als Sumpfkalk bezeichnet man den in einer Grube mit Wasser gelagerten Branntkalk. Auf diese Weise ist der Kalk jahrelang haltbar. Die festeren Bestandteile setzen sich zu Grubenkalk, einer pastösen Masse, ab, oberhalb steht das Sinterwasser. Mit wenig Wasser verdünnt, ergibt sich Kalkfarbe oder -tünche. Gibt man Sand hinzu, entsteht Kalkmörtel. Verdünnt man diesen wiederum mit Wasser, erhält man Kalkschlämme. Diese Mischungen (Calciumhydroxid) binden an der Luft wieder zu Calciumcarbonat ab, werden also wieder zu Kalkstein.

Sgraffito bezeichnet eine handwerkliche Technik zur Dekoration von Wänden. Dabei wird eine helle Kalkfarbe auf einen dunklen Kalkputz aufgetragen. Anschlies­send wird das gewünschte Motiv aus der Farbe gekratzt.
Traditionelle Engadiner Sgraffitomotive sind beispielsweise der «laufende Hund», ein Doppelwellenband in Längsrichtung, das für das Leben steht, oder die Rosette, eine Interpretation des Sonnenrads. Letztere war früher oft im weiss ge­tünchten, trichterförmigen Fenstersturz der Engadinerhäuser angebracht und symbolisierte Fruchtbarkeit und schöpferische Kraft. Weitere typische Elemente sind die Aphorismen, die oftmals die Strassenfassade zieren (vgl. «Weiterführende Literatur», Kasten unten), sowie die angedeuteten architektonischen Elemente wie Steinquader an den Gebäudeecken oder reichhaltig geschmückte Portale.

 


Sgraffito erlernen

In der Grundausbildung «Gipser/Trockenbauer-/in» oder «Maler-/in» wird Sgraffito aktuell nicht gelehrt. In der Weiterbildung gab es bis vor ca. zehn Jahren ein Kursangebot, das aber mangels Nachfrage eingestellt wurde. Als Teil des Modulkurses «Verputztechniken» wird das Thema in der Weiterbildung kurz theoretisch angesprochen.

Der Schweizerische Maler- und Gipserunternehmer-Verband SMGV behandelt im Rahmen seiner Ausbildung «Handwerk in der Denkmalpflege» das Arbeiten mit Sumpfkalk und die Sgraffitotechnik. Professionell ausgeführt wird die Technik aktuell vor allem von Handwerkern (Maurern, Gipsern /Stucka­teuren, Malern) und Künstlern im Engadin, im Bergell und im Münstertal. Weitere Information, auch zu ausführenden Firmen, gibt der SMGV.

Wer als Laie erste Erfahrungen mit Sgraffito sammeln möchte, kann dies in Tages- oder Wochenendseminaren tun. So bietet die Organisation «pro manufacta engia­dina» regelmässig Kurse an. In Zürich Oerlikon gibt das «Haus der Farbe» Interessierten Einblick in die Technik.

Weitere Informationen:
www.smgv.ch | info [at] smgv.ch (info[at]smgv[dot]ch)
www.promanufacta.ch | www.hausderfarbe.ch
 


Sgraffito und die Familie Könz

Im Unterengadin ist das Sgraffitohandwerk eng mit der Familie von Iachen Ulrich Könz (1899–1980) aus Guarda verbunden. Könz war als Architekt, Res­taurator, Denkmalpfleger und Autor tätig, die Gesamtrestaurierung seines Heimatdorfs von 1939 bis 1945 gilt als sein Hauptwerk. Für die beispielhafte Erhaltung des Ortsbilds mit seinen typischen Engadinerhäusern erhielt Guarda 1975 den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes.

Könz gab sein Wissen an seine fünf Söhne weiter, die schon als Kinder bei der Restaurierung von Sgraffitohäusern mithelfen konnten. Die Söhne Constant (* 1929) und Steivan Liun (1940–1998) führten die Sgraffitotradi­tion weiter und waren darüber hinaus als Maler und Bildhauer tätig. Mazina Schmidlin-Könz trägt das Erbe als Künstlerin und Fassadengestalterin in die dritte Generation.
 

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