Wun­der­kam­mer oder Pro­to­typ?

Italien in den Corderie

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Publikationsdatum
23-07-2014
Revision
18-10-2015

Rem Koolhaas, internationaler Architekturstar und Pritzkerpreis-Träger 2000, ist einer der radikalsten Theoretiker der zeitgenössischen Architektur. Der Niederländer hat eine Generation von mittlerweile ebenfalls weltweit tätigen Architekturschaffenden beeinflusst; deutliche Spuren seiner Gedanken finden sich unter anderem bei BIG, MVRDV und Herzog & de Meuron. Noch mehr als seine Bauten haben seine Bücher und Ausstellungen den architektonischen Diskurs seit drei Jahrzehnten inhaltlich und stilistisch geprägt.

Auch an der Biennale in Venedig war er mehrfach mit Ausstellungen präsent, vor vier Jahren erhielt er den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Daher kam seine Ernennung zum Kurator der diesjährigen Biennale wenig überraschend. Zu erwarten war auch, dass die Ausstellung vom gewohnten Schema – einer disparaten Werkschau von bekannten Architekten, notdürftig mit einer möglichst allgemeinen thematischen Klammer zusammengehalten – abweichen würde. Überhaupt waren die Erwartungen extrem hoch. Koolhaas hat sie teils erfüllt, auch wenn die leise erhoffte Revolution ausfällt.

Italien: von Afrika bis zu den Alpen

Die Schau «Monditalia» ist als Stationenweg durch Italien organisiert. «Das Gebäude ist lang, und auch Italien ist lang», bemerkte Koolhaas trocken an der Eröffnung. Zudem sei Italien exemplarisch für die meisten anderen Länder unserer Welt: «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance, sein volles Potenzial auszuschöpfen» – so der Niederländer. Die Aussage verspricht wenig Konkretes, doch Koolhaas’ Auseinandersetzung mit Italien ist tatsächlich sehenswert. Man betritt die Ausstellung beziehungsweise den Stiefel von Süden her und landet vorerst auf der Insel Lampedusa – gemeinsam mit unzähligen Bootsflüchtlingen aus Afrika, deren Elend einen gleich zu Anfang in beeindruckenden Filmsequenzen empfängt.

Hier beginnen zwei parallele Stränge der Schau, die sich auf dem Weg von Süden nach Norden immer wieder thematisch und räumlich überschneiden: auf der einen Seite Kapitel aus Italiens Architektur- und Kulturgeschichte, auf der anderen Seite Ausschnitte aus italienischen Spielfilmen, die an den Stationen des Parcours spielen. So korrespondiert etwa «The Architecture of Hedonism – three Villas on the Island of Capri» des Kurators Martino Stierli mit Ausschnitten aus Filmen wie Jean-Luc Godards «Le mépris», der in der Villa Malaparte des Architekten Adalberto Libera spielt. 

Die Auswahl der nach ihren geografischen Koordinaten angeordneten Stationen wirkt zuweilen etwas episodisch; sie scheint nicht nur durch die Dringlichkeit der Themen, sondern auch durch die Knotenpunkte im Beziehungsnetz des Kurators beeinflusst zu sein. Doch das ist an der Biennale ohnehin meist der Fall – von einer Einzelperson wäre die schiere Grösse des Anlasses nicht zu bewältigen.

Immerhin haben Koolhaas und seine Gäste eine eindrückliche Dichte an spannenden, provokativen und tiefgründigen Beiträgen zusammengestellt, die trotz ihrer Vielfalt ein Ganzes ergeben. Besonders erfreulich ist, dass viele Kapitel zwar architektonischen Themen gewidmet sind, andere aber landschaftliche, soziale oder wirtschaftliche Aspekte beleuchten. Insgesamt sind die Beiträge stets in einen weiteren Kontext gestellt, ohne dabei ins Allgemein-Nichtssagende abzugleiten.

So widmen die Kuratoren Ila Beka und Louise Lemoine eine Videoinstallation dem Ort La Maddalena mit den Koordinaten 41° 12' 53" N / 09° 24' 21" E. Der G8-Gipfel 2009 sollte plangemäss auf dieser Insel vor Sardinien stattfinden, dafür wurde ein Kongresszentrum gebaut. Doch am 23. April 2009 gab der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi bekannt, dass das Treffen nach L’Aquila verlegt würde. Er wollte damit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die vom Erdbeben am 6. April 2009 zerstörte Abruzzen-Region lenken und den dortigen Bewohnern ein Zeichen der Hoffnung geben.

In einem Film erzählt der Architekt des Kongresszentrums von La Maddalena, Stefano Boeri, von seiner persönlichen Beziehung zum Ort. Der fertige, aber nie in Betrieb genommene Komplex zerfällt, nachdem Bau und Planung 300 Millionen Euro verschlungen hatten. In einem parallel dazu laufenden Film – quasi stellvertretend für den Kongressbau – wird ein Mann gezeigt, der seit Jahrzehnten in der Nachbarschaft lebt und aus angespültem Strandgut Objekte baut. Naheliegend, dass sein Material auch aus der zerfallenden Anlage stammt. 

Die Installation «The Business of People» des Kurators Ramak Fazel erzählt voneinander unabhängige Geschichten aus der Gegend um Turin. Nach scheinbar willkürlichen Kriterien sind Wirtschaftszweige wie der Traubenhandel und Firmen wie der Pistolenhersteller Beretta oder der Autokarosseriefabrikant Bertone dokumentiert. Durch Bilder, Zeichnungen und kleine Alltagsgegenstände entsteht pixelhaft ein umfassenderes Bild. Gruppiert sind die Tafeln an den Wänden um Zeitschwellen am Boden – hintereinander liegende Holzbalken mit je einer eingeschnitzten Tagesetappe wie «Morning Café», «Break» oder «Lunch». Das hinterste Wort ist so klein, dass man ganz nah hingehen muss, um «out» zu erkennen.

Interessant ist auch die Station «Italian Limes» der Gruppe Folder, die sich mit den Grenzen Italiens befasst – ein Gebilde, das nicht so statisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Dargestellt wird das Gletschergebiet zwischen Italien und Österreich. Die Eisschmelze, beschleunigt durch die globale Erwärmung, verändert den Grenzverlauf, der historisch durch die Wasserscheide definiert ist. Mittels GPS wird synchron zur Ausstellungsdauer die Veränderung millimetergenau aufgezeichnet. 

Als Dreingabe wird der theoretische Stationenweg durch eine Reihe von zusätzlichen Komponenten angereichert: Zum ersten Mal sind auch die anderen venezianischen Biennalen und Festivals – Tanz, Musik, Theater und Film – an der Veranstaltung beteiligt. Ob dies jedoch tatsächlich zu einem Erkenntnisgewinn beiträgt, die Reizüberflutung steigert oder der punktuellen Entspannung der Besucher während der Ausstellungstour dient, bleibt abzuwarten.

Angesichts der Vielzahl der Beiträge ist es verlockend, vor der inhaltlichen Analyse der einzelnen Stationen erst einmal über dem sinnlichen Eindruck zu verweilen: Die Ausstellung in den Corderie wirkt wie eine üppige temporäre Wunderkammer mit Objekten aus Architekturgeschichte, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wie Objekte in einem Renaissance-Kabinett bildet die Auswahl der Installationen eine persönliche und auch zufällige Parade. Die Sammlung ist thematisch vielseitig, bleibt aber fragmentarisch.

Die einzelnen Stationen haben meist anekdotischen Charakter, dennoch erhellen sie in ihrer Gesamtheit das Bild des Landes Italien. So weit ist das Ausstellungsmodell wie versprochen auf andere Länder übertragbar. Ob aber Italien «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance» auch exemplarisch für den Rest der Welt ist und daher als globaler Prototyp taugt, wäre von Fall zu Fall zu überprüfen. Insofern sagt das Konzept der Ausstellung wohl mehr über die gegenwärtige Betrachtungsweise der Welt aus als ihr Inhalt. 

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