Wis­sen­schaft, Wahn und Wirk­lich­keit

Ein 70 m langes steinernes Buch hinterliess Fernando Oreste Nannetti (1927–1994) in der psychiatrischen Klinik in Volterra (I), wo er interniert war. Mit einer Gürtelschnalle kratzte er während sieben Jahren Graffiti in die Innenhofmauern, ein Epos von surrealer Intensität.

Publikationsdatum
19-01-2012
Revision
01-09-2015

Sein halbes Leben verbrachte der in Rom geborene Fernando Oreste Nannetti in psychiatrischen Anstalten. Den ersten Aufenthalt erlebte er im Alter von zehn Jahren in einer Einrichtung für Minderjährige. Mit 29 Jahren wurde er aufgrund von Halluzina­tionen und Verfolgungswahn als schizophren diagnostiziert und für zwei Jahre im Ospedale psichiatrico Santa Maria della Pietà in Rom interniert und 1958 dann nach Volterra verlegt, wo er gleichsam die Sprache verlor: Hatte er in Rom noch eifrig kommuniziert, verstummte er im Ospedale psichiatrico Ferri di Volterra und drückte sich fortan – in den Jahren 1959–1961 und 1968–1973 – fast ausschliesslich in den Zeichen aus, die er in die Wände des Innenhofs kratzte. Es sind Notate zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahn und Wissenschaft – entstanden unter dem Einfluss elektromagnetischer Wellen. Nannetti fühlte und vermittelte telepathische Botschaften, die er zu empfangen meinte: «das Glas die Bleche die Metalle das Holz die Knochen des Menschen das Tier und das Auge und der Geist kontrollieren sich • durch den reflexiven Strahl • magnetisch katotisch • es sind • lebende Materien prägen ein • die Bilder • und • brechen • sich [...] bei einer Temperatur • und • verwandeln sich und • stirb • selbst • zwei • Mal ich bin Materialist und • Spiritualist • ich liebe • mein • materielles Wesen • als solches • denn • ich bin • gross • und • freunddlich • in • meinem • Geist • Seele kontrolliert durch Telequant • und draussen • Telestation • in • direkter • telepathischer • Verbindung • die Jahre • 1955 • 1956 • 1957 • 1958 • 1959 Glas Portifera Schi Schuh Schnalle».

Epos in Geheimschrift

Seit Nannettis Verlegung 1973 ins Istituto Bianchi in Volterra und ein paar Jahre später in eine weitere Anstalt der Stadt, in der er 1994 starb, setzte die Verwitterung dem steinernen Buch zu. So manchen Fotografen schlug die steinzeitlich anmutende Kunst in ihren Bann – auch Pier Nello Manoni. Er schuf 1979 – vor der Schliessung der Psychiatrie und bevor sich die Erosion des heute fast vollständig verschwundenen Originalwerkes zu bemächtigen begann – beeindruckende, ja beklemmende Aufnahmen. Sie waren diesen Sommer in der Collection de l'Art Brut in Lausanne zu sehen und werden nun im Art / Brut Center im österreichischen Gugging präsentiert. Die reichhaltige fotografische Dokumentation findet sich auch in dem sorgfältig gestalteten und mit kenntnisreichen Texten ausgestatteten Katalog zur Ausstellung. Das monumentale Versepos ist «verblichen», als wäre es nicht nur so kryptisch geschrieben, dass es wie in Geheimschrift verfasst erscheint, sondern auch mit Geheimtinte aufgesetzt. Dass es wenigstens in abgelichteter Form noch greifbar ist, gewissermassen als Astralleib, ist eine würdige Hommage des «colonello astrale», wie sich Fernando ­Oreste Nannetti bezeichnete.

Ausstellung und Katalog
Die Ausstellung des steinernen Buches von Fernando Oreste Nannetti, die ihre Premiere diesen Herbst unter dem Titel «colonel astral» in der Collection de l'Art Brut in Lausanne hatte, ist nun unter dem Titel «nannetti.! sternenoffizier» bis am 4. März 2012 im Art / Brut Center Gugging im österreichischen Klosterneuburg zu sehen. Öffnungszeiten: Di–So, 10–17 Uhr. Informationen: http://www.gugging.org/
Der Katalog «Nannetti» mit Beiträgen von Antonio Tabucchi, Pier Nello Manoni und Lucienne Peiry enthält ein Transkript von Nannettis Texten und eine DVD des Films «I graffiti della mente» sowie zahlreiche Farb- und Schwarz-Weiss-Abbildungen. Die Texte sind französisch, italienisch und englisch, die Publikation kostet Fr. 69.–.

Magazine

Verwandte Beiträge