«Wir den­ken al­le ra­tio­nal»

Gespräch mit Adrien Tirtiaux anlässlich seiner Ausstellung «Immer noch und noch nicht» im Jahr 2011

Adrien Tirtiaux aus Belgien ist vornehmlich Künstler. Seine Ausstellung «Immer noch und noch nicht», die er 2011 in der Kunst Halle Sankt Gallen zusammen mit dem Wiener Künstler Hannes Zebedin realisierte, war allerdings auch durch seine Ausbildung zum Architekten und Bauingenieur beeinflusst.

Publikationsdatum
01-01-2012
Revision
01-09-2015

Charles von Büren: Adrien Tirtiaux, inwiefern sind Sie immer noch Bauingenieur und Architekt und noch nicht Künstler?
Adrien Tirtiaux: Ich würde mir nicht erlauben, mich als Bauingenieur zu bezeichnen. Es wäre nicht richtig jenen gegenüber, die aktiv als Bauingenieure tätig sind. Nur das Diplom zu haben macht noch lange keinen richtigen Ingenieur. Für das Studium habe ich mich entschieden, weil ich gut in Mathematik war und ausserdem gut zeichnen konnte. Aber als ich das Diplom erhielt, fühlte ich mich mit 23 Jahren zu jung, um in einem Architektur- oder Ingenieurbüro zu arbeiten. Mir schienen die Menschen spannend und interessant, die weiterstudierten. Also ging ich nach Wien an die Akademie der Bildenden Künste. Nun bin ich Künstler, vielleicht auch ein wenig Architekt. Ich denke, wie sie es tun, und mag es, wenn Eingriffe funktional sind und Sinn ergeben.

CvB: Wie würden Sie Ihren Denkprozess beschreiben?
A.T.: Ich schaffe meistens Kunst, indem ich in kontextuellen Parametern denke. Analog zum Entwurfsprozess von Architekten und Ingenieuren halte ich mich an Variablen und Konstanten. Ich füge sie gedanklich zu einer komplexen Gleichung zusammen und löse diese dann auf. Das Resultat ist das Kunstwerk. In diesem Prozess bin ich allerdings froh, kein Architekt zu sein. Denn als Künstler kann ich mich von Auftraggebern, Vorschriften und Normen lösen. Ausserdem darf ich von einem kurzweiligeren Prozess profitieren: Die konzeptionelle Phase und die Ausführung bleiben der wesentlichste Teil meiner Arbeit – was mich freut, denn die krea­tive und die konstruktive Phase gefallen mir sehr. Vor allem der administrative Teil ist dagegen im Vergleich zu Ingenieur- und Architekturprojekten äusserst reduziert: Ich brauche keine Bewilligungen einzuholen und technische Berichte zu schreiben. Die drei Bergspitzen in dieser Ausstellung stehen ein wenig für meine Art zu arbeiten: Ich beschränke mich auf das Wesentliche – bleibe dabei aber präzise. Natürlich könnte ich den ganzen Berg abbilden; ich konzentriere mich aber auf die Spitze und arbeite von oben nach unten, dann ist das Essenzielle rasch gezeigt ...

CvB: Sie picken sich die Rosinen heraus?
A.T.: (lacht) Ja, vielleicht ist das so.

CvB: Die Tragstruktur prägt den Raum dieser Ausstellung: weiss gestrichener Rohbeton, Unterzüge, Stützen. Gefällt es Ihnen, hier künstlerisch zu wirken?
A.T.: Die Ingenieurarchitektur hier gefällt mir sehr gut. Doch gleichzeitig fällt es mir schwer, darin Kunst zu schaffen. Denn dieser bestimmt schöne White Cube alleine lässt mir zu viel Freiheiten. Zum Glück konnte ich mit Hannes Zebedin zusammenarbeiten, der mir mit seinen Kunstwerken Rahmenbedingungen gab und Zwänge schuf, an die ich mich halten musste. Es lag kein weisses Blatt vor mir.
Am liebsten sind mir komplexe Räume wie meine Herkunftsstadt Charleroi: eine industrielle Stadt, die mit der Krise in der Stahlbaubranche unterging. Die Zeit ist in den 1970er-Jahren stehengeblieben, und das Stadtbild zeigt sich überall gleich heruntergekommen und in einem üblen Zustand. Für mich führen diese problematischen Parameter zu etwas Kreativem. Im Garten des Hauses, in dem ich letzten Sommer wohnte, habe ich beispielsweise einen neuen Zugang zur Wohnung geschaffen. Die Parameter waren gegeben: Ich hatte kein Geld, und die Bewohner hatten nur einen Schlüssel für die Eingangstür, jedoch mehrere für die Gartentür. Also grub ich ­einen Korridor im Garten und schuf einen zweiten, besser nutzbaren Zugang. Gleichzeitig erhielt der enge und triste Raum einen Mehrwert, denn nun gelangten wir über den viel interessanteren Weg via Garten in die Wohnung.

CvB: Es reizt Sie eher, in maroden Räumen zu intervenieren?
A.T.: Bestimmt. Vielleicht, weil es mir einfacher fällt, in einem schwierigen Umfeld einen Mehrwert zu schaffen, als in einem Raum, der an sich schon schön und spannend ist – dort sieht schnell etwas nach Kunst aus, es kann allerdings auch schnell geschehen, dass man ihn mit einem Eingriff abwertet.

CvB: Ist Ihre kontextuelle Kunst durch die Vorliebe zu ingenieurspezifischen Themen geprägt?
A.T.: Die Tragstruktur prägt meine Ausstellungen hier und auch in anderen Fällen unbedingt. Materialspezifische Eigenheiten und Konstruktionen interessieren mich. Und der Zwang, sich mit der Gravitationskraft auseinanderzusetzen, ist spannend. Die Treppe hier in der Ausstellung beispielsweise war erst als Rampe gedacht. Doch mit der Idee, sie auch als Tribüne zu nutzen, wechselte ich die Gestaltung dieses Raumtrenners. Das Holz war jedoch bereits bestellt und für die Rampe zugeschnitten, ich musste also damit arbeiten. Erst wollten wir die viel zu weiche Tribüne nur aufhängen, doch das Blech, an dem die Spriesse aufgehängt war, bog sich durch, sobald wir uns auf die Tribüne setzten. Nun steht die Spriesse auf dem Boden, und die Besucher können die Tribüne sicher besetzen.

CvB: Die Funktionalität ist Ihnen also nicht nur wichtig, sondern sie steht auch im Vordergrund Ihrer Projekte?
A.T.: Funktionalität ist meist der Ausgangspunkt meiner Arbeiten und steht manchmal auch im Vordergrund. Insbesondere beschäftigt mich diesbezüglich der Übergang von einem Raum in einen anderen – nicht zuletzt auch durch eine andere Vorliebe von mir: Comics.

CvB: Sie meinen vermutlich die Bildabfolge bzw. den Szenenwechsel?
A.T.: Sich in einem Raum zu bewegen, ist wie ­einen Comic zu lesen. Die Kunst, gute Comics zu zeichnen, liegt darin, die Spannung aufzubauen. Blättert man zur nächsten Seite, möchte man überrascht und erstaunt sein. So soll es auch sein, wenn man von Raum zu Raum spaziert. Die Dramaturgie der Raumabfolge erzählt eine Geschichte in Sequenzen, genau wie ein Comic. So gestaltete ich auch hier in St. Gallen die Raumübergänge neu; jeder hat eine Funktion zu erfüllen: Der Eingang bricht die Sicht, die Türe steigert die Erwartung, der Vorhang schafft einen Dunkelraum, die Tribüne bietet eine Sitzgelegenheit und formt den Durchgang zurück an den Anfang.

CvB: Der Kreis schliesst sich also.
A.T.: So scheint es übrigens auch mit meinem beruflichen Werdegang. Jetzt, wo ich zurück in Belgien bin und ehemalige Studienkollegen und -kolleginnen wieder treffe, habe ich die Möglichkeit, Projekte für «Kunst am Bau» umzusetzen. Ich arbeite zusammen mit Architekten, ich erhalte die Parameter aus dem umliegenden Umfeld, aus dem Kontext, worin sich mein Projekt einfügen soll, und suche die Lösung der Gleichung – nämlich das Kunstwerk.

CvB: Und wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Architekten und Ihnen, dem Ingenieur-Architekten-Künstler?
A.T.: Gut – wir denken alle rational.

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