Sze­na­ri­en für die Al­pen­stadt in den nächs­ten 100 Jah­ren: Schluss­ver­an­stal­tung

Der «Salon Suisse» 2014 von Pro Helvetia an der Architekturbiennale

Nach zehn Abenden, an denen über die Zukunft des alpinen Stadtstaates diskutiert wurde, nach Vorträgen von Referenten unterschiedlicher Disziplinen und nach umfassenden Analysen unterschiedlicher Herkunft schliesst der «Salon Suisse» die Türen. Die Ergebnisse werden in einem schriftlichen Dokument niedergelegt, das als konkretes Zeugnis der erwarteten Ergebnisse erhalten bleibt.

Publikationsdatum
18-02-2015
Revision
25-08-2015
Laura Ceriolo
Architektin, Historikerin für Wissenschaft und Bautechnik

Gäste des ersten Abends waren Frédéric Kaplan und Daniela Kuka, die über Erfahrungen aus ihren Stadtprojekten sprachen. Kaplan berichtete über das laufende Projekt der Digitalisierung der Stadt Venedigs (Video), Kuka über «Preenaction», ihren spielerischen Zugang zu gesellschaftlichen und urbanen Fragestellungen. Die Frage nach der Verbindung zwischen Venedig und der Schweiz stellt sich: Gibt es gemeinsame Elemente, wenn man die Zukunft der Schweiz und die Vergangenheit Venedigs als Stadtstaat vergleicht   Wenn die Schweiz heute neu gegründet würde, auf welchen Prinzipien, Gesellschaftsverträgen und wirtschaftlichen Modellen würde sie beruhen 

Die abschliessende Versammlung des letzten «Salon Suisse» bestand aus Akademikern, Fachleuten, Bürgern, Denkern, Akteuren und Aktivisten. Geleitet wurde sie von Lukas Bärfuss, Roger Monnerat, André Bideau, Finn Canonica und Simona Pfister.

Die Redner der letzten Abende waren Schweizer aus Zürich, und ihre Überlegungen konzentrierten sich auf ihre Stadt und ihre Nation. Der internationale Charakter ging verloren. Im Folgenden möchte ich auf einige häufig wiederholte Begriffe eingehen, die die Schweiz symbolisch repräsentieren.

Identität

Die Identität als Wert war während der letzten zwei Tage des abschliessenden «Salon Suisse» in Venedig ein häufig diskutierter Begriff. Besitzt die Schweiz eine klar umrissene Identität oder viele verschiedene Identitäten? Wenn die Identität vielfältig gestaltet ist, handelt es sich dann dabei um einen Wert oder eher um ein Hindernis für die Bürger? Identität soll eine Art Fussabdruck einer Nation oder einer Stadt sein, aber sie wird fast zu einem Markenzeichen, denken wir nur an Novartis: ein Unternehmen, das das Bild der Stadt Basel sicher nicht widerspiegelt, nicht einmal in Hinblick auf die Grössenordnung. Es handelt sich um eine geschlossene und befestigte Zitadelle. Novartis ist eine Inszenierung, die den Hintergrund für die Stadt bildet, der viele Besucher anzieht, aber dennoch ein Unternehmen bleibt.

Diversität

Ist sie die wichtigste Ressource der Schweiz oder nicht? Führt die Diversität, die man insbesondere in grösseren Städten findet, zu einer grösseren Isolierung und sozialen Ausgrenzung? Oder liegt im «Nicht-Schweizerischen» der Schweiz, die aus künstlichen Identitäten besteht, die zum grossen Teil auf wirtschaftlichen Gründen beruhen, ihr wahrer Reichtum 

«alpin»

Der Begriff «alpin» ist ein weiteres häufiges Attribut, das schon im Titel der Veranstaltung präsent ist. Oft habe ich mich gefragt, ob er wirklich passend ist. Ist er auch ein Markenzeichen – für bukolisch, romantisch, umweltfreundlich, nachhaltig –, oder handelt es sich einfach nur um einen gemeinsamen Topos der zwei Teile der Schweiz, jener vor und jener hinter den Alpen bzw. diesseits und jenseits des Gotthardmassivs, da weder die Grossregionen Bern oder Zürich noch das Tessin «Alpenstädte» sind. Sie können aber dennoch auf diese Weise als im Herzen der Schweiz dargestellt werden, auf der Suche nach dieser Stadt, die Besorgnis hervorruft, die sich über die Berge und die Hochebenen hinaus ausweitet, die den verfügbaren Raum in Anspruch nimmt und dem Raum keinen Raum lässt.

NEAT

Es handelt sich um das Akronym von Neue Eisenbahn-Alpentransversale oder Alptransit, die neue alpenquerende Eisenbahnlinie. Diese Eisenbahnverbindung zwischen den Landesteilen nördlich und südlich des Gotthard ist eine neue Infrastruktur, die mit «Unterinfrastrukturen» und «Satelliteninfrastrukturen» ausgestattet wird, die das Landschaftsbild durch neue Tunneleinfahrten, Verkehrskontrolltürme, Stützmauern und flankierende Massnahmen verändern. Es liegt in der Natur des Projekts, dass es gleichzeitig Landschaften zusammenführt und zerschneidet. Es wird Zürich und das Tessin zusammenbringen und die Entfernungen zwischen diesen beiden Zentren reduzieren. «In grösseren Städten entstehen mehr Ideen», sagt Markus Schaefer, «weil sie aus Beziehungen, Austausch, Märkten und Kulturen bestehen.» Handelt es sich vielleicht um die Erfüllung des Mythos eines «polyzentrischen Arkadiens» 

Zersiedelung

Was bedeutet der Begriff bei der Verwendung durch jene Disziplinen, die sich mit Stadtplanung befassen? Die vorhandene Situation im städtischen und ländlichen Raum muss in ihrer gesamten Heterogenität, ihren Verflechtungen, der Koexistenz von stagnierenden Gebieten und solchen im starken Wandel, herkömmlichen Siedlungsstrukturen und neuen Formen der Bebauung wahrgenommen werden. Diese Gesamtheit muss mit solchen Verfahren beobachtet, gestalterisch ausgelotet und analysiert werden, mit denen neue Regeln, neue Praktiken, Brüche und innovative Formen erkannt werden können.

«Città diffusa» – Zersiedelung – ist ein Begriff, der in Italien negativ besetzt ist. Er steht für die städtische Zersplitterung, für die Suburbanisierung: also für die geografische Ausweitung der Stadt über ihre eigenen Grenzen hinaus. Über 90% der Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte in den USA, in Grossbritannien, Japan, Kanada und Australien fanden in den städtischen Peripherien statt. Dies ging auch aus den Beiträgen der Referenten der einzelnen Abende des «Salon Suisse» hervor. Stadtrandgebiete sind in den grössten Städten Westeuropas um 115% gewachsen aufgrund der Migration von den Innenstädten an den Stadtrand. Ein typisches Element der Zersiedelung ist die physische Trennung des Raumes, der für die unterschiedlichen Tätigkeiten benötigt wird: Wohnen, Einkaufen, Büros, öffentliche Einrichtungen und Strassen.

In der Schweiz findet Zersiedelung dort statt, wo Raum zur Verfügung steht. Solcher Raum ist jedoch knapp, insbesondere in der Region Zürich und im Tessin, Teilen von Lausanne, Bern oder Winterthur. Das Problem muss also für Zürich und diese anderen Städte betrachtet werden.

Die Stadt der Gegenwart ist mit ihren Formen der Dezentralisierung und der Zersiedelung sowohl konzeptuell als auch operativ schwer zu interpretieren. Françoise Choay wies seinerzeit auf die Veränderung der Grössenordnung beim Übergang von der herkömmlichen Stadt zur kontemporären oder posturbanen Stadt hin.

Im neuen globalen Szenario und zum Teil auch im schweizerischen Szenario kann von der Vorherrschaft der grossen Infrastruktureinrichtungen gesprochen werden, die sowohl in der Stadt als auch ausserhalb davon überall präsent sind. Es handelt sich um räumliche Strukturen von grosser Tragweite wie Stadtautobahnen, Autobahnein- und -ausfahrten, Bahnhöfe und Flughäfen, die nicht in den Rest der Stadt integriert sind. Choay würde sagen, es handle sich um «de-realisierte» Räume. Der Raum der grossen Infrastruktureinrichtungen kann zu einem Ordnungssystem des Gebiets werden, ohne zu gross zu erscheinen, da der Gigantismus nicht aus der Grösse selbst, sondern aus der Abwesenheit von Bezügen entsteht.

Tessin-Stadt

Zu Füssen des Gotthards, südlich von Zürich und nördlich von Mailand, finden wir eine Stadt ohne Einhalt und ohne Unterbrechung, die von Chiasso bis Bellinzona und Locarno reicht und im Norden bereits als Filiale von Mailand studiert, theoretisiert und eingeordnet wurden (SNF-Projekt 65). Sie ist nicht mehr punktförmig, sondern aufgrund der Morphologie des Gebiets lang gestreckt. An den Rändern bleiben jedoch das Grün, die einsamen Bauernhäuser, die nicht organisierten Räume, in denen man noch nach eigenen Vorstellungen leben kann, erhalten.

Die Aufgabe von Architekten und Stadtplanern ist es aus dieser Perspektive, Verantwortung zu übernehmen und im Zusammenspiel mit den Regeln und Zwängen der Politik Antworten zu geben.

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