Sze­na­ri­en für die Al­pen­stadt in den nächs­ten 100 Jah­ren: 1. Sa­lon

«Salon Suisse» 2014 von Pro Helvetia an der Architektur-Biennale Venedig

Am «Salon Suisse» in Venedig wird über die Zukunft der Stadt diskutiert. Zu den Zielsetzungen des ersten Salons gehören ein besseres Verständnis der modernen städteplanerischen Theorien und Modelle sowie die Suche nach einer Idee der Stadt, die von allen Disziplinen, die sich mit ihr befassen, geteilt wird.

Publikationsdatum
02-12-2014
Revision
01-09-2015
Laura Ceriolo
Architektin, Historikerin für Wissenschaft und Bautechnik

In der westlichen Kultur ist die Stadt als Ort der sozialen und kulturellen Integration konzipiert; sie ist ein Ort der Begegnung, ein sicherer und geschützter Ort, an dem neue Identitäten entstehen, und sie ist der Ort, an dem technologische, wissenschaftliche, kulturelle und institutionelle Innovation stattfindet. Moderne Städte werden in wachsendem Masse zu einem Magneten; daraus resultieren jedoch Krisensituationen in Hinblick auf Wohnraum und Verkehr sowie ein daraus resultierendes exponenzielles Kostenwachstum.

In den grossen städtischen Ballungsgebieten leben reiche und arme Menschen nebeneinander. Die Ungleichheit scheint sich konstant zu verschärfen, fast als würde sie von den modernen städteplanerischen Projekten gefördert. Andererseits schafft das Streben nach Reichtum Instabilität. Die Wissenschaft der komplexen Systeme setzt sich mit der Risikobewertung und der Verteilung des Reichtums auseinander.

Die Urbanistik ist mitverantwortlich für die Verschärfung dieser bereits unausgewogenen und von Ungleichheit geprägten Situation. Die Stadtentwicklung muss deshalb mit neuen und gebündelten Anstrengungen angegangen werden, ausgehend von der städtischen Raumstruktur, die immer absurdere Dimensionen annimmt.

Der von Pro Helvetia in Venedig organisierte «Salon suisse» präsentiert dieses Jahr im Rahmen der Architektur-Biennale vier Studien-Sessions über die Zukunft der Stadt, die jeweils drei Tage andauern. Insgesamt umfasst die Veranstaltungsreihe 4 Salons. Dazu wurden Wissenschafter aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Disziplinen eingeladen – Wirtschaftswissenschafter, Soziologen, Ökologen, Geografen, Schriftsteller, Architekten, Stadtplaner –, die ein oder mehrere mögliche Szenarien der Alpenstadt der Zukunft aufzeigen sollen.

«Design – The Nature of Cities»

Am 1. Salon präsentieren der amerikanische Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson, David Gugerli (Departement für Technikgeschichte, ETHZ) und Stephen Graham (Cities & Society, Newcastle University) ihre Untersuchungen und Meinungen über die Idee, die Entstehung, die Herausbildung, die Entwicklung und die Zukunft der Stadt – von der griechischen Polis bis zur römischen Civitas, von der europäischen Stadt bis zur Metropole und der heutigen Postmetropolis.

Die Abende werden von Hiromi Hosoya und Markus Schaefer (Hosoya Schaefer Architects, Zürich) moderiert, die am zweiten Tag des Salons Denise Pumain (Geografin an der Sorbonne), David Graeber (Anthropologe an der London School of Economics) und Didier Sornette (Physiker, Inhaber des Entrepreneurial-Risks-Lehrstuhls an der ETHZ) eingeladen haben. Am dritten und letzten Tag des 1. Salons diskutieren Angelus Eisinger (Städtebau- und Planungshistoriker) und Hidetoshi Ohno (Umweltstudien, Universität Tokio).

Das Format des Salons ist ein «work in progress», das sich im Laufe der Begegnungen selbst definiert. Die Gespräche orientieren sich an einem Leitfaden, während Diskussion und Inhalte sich frei entwickeln. Das Publikum ist erst überrascht, dann beteiligt und schliesslich zufrieden mit dem Erfolg des Salons, denn am Ende des dritten Abends scheinen die Gesprächspartner eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben, eine Art Esperanto, mit dem sie ihre Ideen, so verschieden sie auch sein mögen, zum Ausdruck bringen können.

Die Stadt, die Gegenstand dieser Veranstaltungsreihe ist, wird zunächst einmal aus dem Blickwinkel der Sozialwissenschaften, darunter auch der Geografie, untersucht. Die Geografie untersucht als Wissenschaft der Stadt die Stadtsysteme, die aus den räumlichen Interaktionen in einem bestimmten Gebiet hervorgehen. Laut Denise Pumain unterliegen Städte bestimmten Zwängen – Energie, wachsende Kosten, Nahrung, Verkehr, Begegnungen, Austausch –, die ihr Grenzen setzen und bewirken, dass der bewohnbare Raum nicht unendlich ausgeweitet werden kann.

Ingredienzen einer Stadt

Die «Zutaten», die die Stadt bestimmen, unterscheiden sich im Rahmen stochastischer und proportionaler Regeln nach wirtschaftlichen Katalysatoren. Die Wirtschaftssysteme sind jedoch aufgrund eines Evolutionsprozesses, in dem die Grossstädte die entscheidende Rolle spielen, von Grund auf intrinsisch instabil.

Auf der Grundlage dieser Überlegungen verwenden Forscher wie Didier Sornette, die sich mit extremen Ereignissen befassen, dafür den von Sornette selbst geprägten Begriff «Dragon-Kings». Ein extremes Ereignis ist grundsätzlich vorhersehbar, es wird also nicht als Zufall angesehen.

Das Beispiel in unserem Kontext ist das von «mega-cities» wie Paris. In Paris könnte aufgrund des mit der Dragon-Kings-Theorie vorhersehbaren exponenziellen demografischen Wachstums eine Krisensituation entstehen. Das demografische Wachstum der französischen Städte kann grafisch anhand einer linearen Geraden dargestellt werden, mit Ausnahme von Paris, das aus dieser Linearität ausbricht. Stehen aber für die Stadtentwicklung relevante Daten zur Verfügung, können die Ursachen des unmittelbar bevorstehenden Wachstums im Vorfeld abgeleitet und untersucht werden.

Welche urbanistischen Modelle eignen sich für die Stadt des 21. Jahrhunderts? Nach dem Wachstumsboom in den 1980er-Jahren in Japan und anderswo sind die auf Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung zurückzuführenden «shrinking cities» ein Beispiel für kleiner werdende Städte, die als Chance für Diversität und Flexibilität angesehen werden müssen.

Hidetoshi Ohno bietet über das konzentrische, historisch-lineare oder «Tabula rasa»-Modell hinaus ein alternatives Modell an, das den wachsenden Phänomenen der Überalterung unter starker Konzentration der Einwohner in der Stadt gerecht wird. Es sollte verwendet werden, um die Paradigmen der Stadtplanung und der architektonischen Planung auf der Grundlage dieser Voraussetzungen radikal zu ändern.

Das Projekt Fibercity Tokyo 2050 basiert auf einer Metapher, die das Modell der Stadt als Einheit aus Fasern und Gewebe sieht. Die Fasern, die strukturellen Einheiten, sind die Strassen, die U-Bahn Linien und die Beziehungen zwischen den Bürgern; damit das Gewebe nicht auseinanderfällt, muss man die Fasern stärken. Dazu dienen Strategien, mit denen die Orte neu konzipiert und die linearen Elemente gestärkt werden, um eine angemessene Antwort auf die Bedürfnisse der zukünftigen Generationen zu geben.

Zürich, Modell einer polyzentrischen städtischen Region

Wohin gehen Wohntrends und das Bild der Stadt in der Schweiz? In der Innerschweiz und insbesondere in Zürich führt die hohe Lebensqualität zu einem starken Wachstum der Bevölkerung, die etwa zwei Drittel der Bevölkerung des gesamten Landes ausmacht. Zürich hat als wirtschaftlicher Motor der Nation nicht nur eine hohe strategische Bedeutung, sondern ist auch ein Beispiel für eine polyzentrische städtische Region.

Die polyzentrische städtische Region ist laut Angelus Eisinger das Abbild der zeitgenössischen Stadt. Es geht hier darum, auf korrekte Weise und mit geeigneten Instrumenten den Entwicklungsprozess dieser «Stadtstaaten» zu leiten, mittels vier den jeweiligen verantwortlichen Disziplinen (Architektur, Stadtplanung, Stadtentwicklung, Raumplanung) zugeordneten Dimensionsskalen. Damit die Stadt, Anziehungspol für Wirtschaft und Kultur, nicht unter den negativen Auswirkungen ihrer Grösse leidet trotz der grossen städtischen Verwandlungskraft.

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