Sym­bio­se und Spar­ring

«Welche Konstruktion?» lautete das Thema des 10. Architekturgesprächs in Einsiedeln. Die kleine, feine Veranstaltung versammelte Ingenieure und Architekten zu einer ganztägigen, äusserst spannenden gemeinsamen Auseinandersetzung.

Publikationsdatum
19-12-2017
Revision
19-12-2017

Schon die Ausgangslage war reizvoll: zwei Perspektiven auf ein und dasselbe aktuelle Bauwerk, durchgespielt an fünf Bauwerken, immer mit Fokus auf die Beziehung zwischen Form und Konstruktion. Zuerst sprach jeweils der Ingenieur, dann der Architekt. Sie erklärten ihren Zugang zum Projekt, ihre Rolle beim Entwurf des statischen und räumlichen Konzepts, ihre Sicht auf die Art und Weise der Zusammenarbeit. Zur Versuchsanordnung gehörte auch, dass sich die beiden nicht im Vorfeld darüber abgesprochen hatten, wer was sagen würde; so ergab sich nicht nur in den anschliessenden Diskussionen, sondern bereits während den Vorträgen manch überraschende Erkenntnis.

Schon am Vormittag wurde deutlich, dass bei Projekten dieser Liga – bei denen sich Tragkonstruktion und Raumstruktur gegenseitig bedingen – auch die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur symbiotische Züge aufweist. Gemeinsam tasten sich die Beteiligten an neue Entwurfsmethoden heran, legen ihr Wertsystem offen und lassen sich auf das des anderen ein. Die so entstandene Nähe ermöglicht einerseits eine effiziente, auf gegenseitigem Verständnis basierende, ebenso befriedigende wie fordernde Zusammenarbeit; nicht zufällig waren drei der fünf anwesenden Zweiergespanne langjährige, gut eingespielte Teams. Andererseits erzeugt diese Intimität auch eine gewisse Verunsicherung: Die vermeintlich scharfen Abgrenzungen zwischen den Rollenbildern verwischen sich, das berufliche Selbstverständnis gerät ins Wanken. Das hält nur aus, wer sich in der eigenen Disziplin auf eine unerschütterliche Fachkompetenz abstützen kann.

Was diese Grenzüberschreitung bedeuten kann, demonstrierten die Referenten teils bewusst, teils zu ihrem eigenen Erstaunen in der Diskussion. Ein gängiges, durch die Praxis allerdings oft bestätigtes Vorurteil besagt, dass der Architekt einen rein gestalterisch motivierten Entwurf macht, für den der Ingenieur ein möglichst ökonomisches Tragwerk errechnet. Emotio versus Ratio, Kunst versus Wissenschaft also – doch so einfach ist das nicht bei Bauwerken, in denen sich physikalische und ästhetische Komponenten zu einer Einheit verdichten. In Einsiedeln sprachen Ingenieure über die Eleganz von Tragwerken, die Sinnlichkeit von Balken, die Kraft des Tragens und die Subtilitäten der Lichtführung. Im Gegenzug führten Architekten materialtechnische Argumente ins Feld, sinnierten über konstruktive Logik und optimierte Installationen. Mit schüchterner Stimme manchmal, in aller Bescheidenheit zwar – doch alle wagten sich hinaus auf das Glatteis der Interdisziplinarität.

Vielleicht hat der Rahmen als Katalysator gewirkt: Die Bibliothek Werner Oechslin mit ihrem Anspruch auf Universalität ermutigt zu gedanklichen Ausflügen, und weil an diesem Samstag schändlich wenige Interessierte den Weg nach Einsiedeln gefunden hatten, war man praktisch unter sich. So entstanden intensive, inspirierende Diskussionen – und eine spürbare Erleichterung darüber, dass die willkürliche, vereinfachende Gegenüberstellung von ästhetischem und wissenschaftlichem Anspruch für einmal aufgehoben war. Denn dass subjektive Schönheit und exakte Wissenschaft nicht zwangsläufig Gegensätze bilden müssen, zeigt sich nicht nur in den Berührungspunkten von Musik und Mathematik, sondern auch beim Bauen, etwa in der Zahlen- und Proportionenlehre. Über diese Dinge nachdenken zu können, ohne als Verräter an der eigenen Disziplin verrufen zu werden, ist ein anspruchsvolles Privileg, das alle Anwesenden sichtlich genossen haben.
 

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