Strom aus Saft und Be­ton

Der Berliner Architekt Thorsten Klooster und die Kasseler Künstlerin Heike Klussmann entwickeln seit 2009 neuartige Materialsysteme. Hier stellen sie ihr jüngstes Projekt vor: eine auf Betonelemente applizierte, biologische photovoltaische Beschichtung. Das funktionstüchtige System ist eine potenzielle ökologische Alternative zu konventionellen Halbleitersystemen.

Publikationsdatum
22-08-2013
Revision
30-10-2015

Die meisten Pflanzen benötigen für den lebenswichtigen Prozess der Photosynthese bekanntlich den grünen Farbstoff Chlorophyll. Das Prinzip ist mehrere Millionen Jahre alt: Die Photosynthese nutzt Sonnenenergie zur Unterstützung pflanzlichen Lebens. Die Licht sammelnden Moleküle der Chlorophylle nehmen Sonnenenergie auf, um Kohlendioxid und Wasser in Zucker und Sauerstoff zu verwandeln – Lichtenergie wird eingefangen und in chemische Energie transformiert. Die gewonnene Energie treibt die biochemische Maschinerie der Pflanzenzellen an. Die Chlorophylle sind in den Zellen pflanzlicher Blätter als molekulare Ensembles in allen Grössenordnungen – von der Nanometerebene bis in den Mikrometerbereich – angeordnet, um Lichtenergie zu sammeln. 

Die Graetzel-Zelle – eine Schweizer Pionierleistung

Vor über zwanzig Jahren entwickelte der Chemiker Michael Graetzel eine Solarzelle nach dem Vorbild der Natur: Die Graetzel- oder Farbstoffsolarzelle nimmt Licht nicht mit Halbleitermaterialien auf, sondern mit Suspensionen organischer Farbstoffe, wie sie beispielsweise in naturreinen Fruchtsäften vorkommen. Ende der 1980er-Jahre nutzte Graetzel dieses dem Vorgang der Photosynthese ähnliche, auch als «technische Photosynthese» bezeichnete Prinzip für die Konstruktion einer Solarzelle.1 Der heute weltweit bedeutende, an der ETH Lausanne beheimatete Wissenschafter begründete damit einen neuen Forschungszweig zur Entwicklung ökonomisch und ökologisch sinnvoller Formen der Solarenergiegewinnung.

Seither haben jedoch konventionelle Halbleitersysteme für die Nutzung solarer Energie den weltweiten Markt dominiert. Die erste und zweite Generation der photovoltaischen Systeme, die Silizium-Solarzellen, haben sich als Aufdach-Solarstromanlagen weitgehend etabliert. Der für ihre Herstellung benötigte Grundstoff Silizium steht im Prinzip unbegrenzt zur Verfügung; die ebenfalls notwendigen Seltenen Erden wie Indium, Gallium, Tellur und Selen sind bezüglich Materialökonomie, Ressourcenverbrauch und Umweltverträglichkeit aber negativ zu bewerten. 

Für alternative Systeme wie die Farbstoffsolarzellen und die organischen Solarzellen stellt sich die Problematik der Seltenen Erden hingegen nicht. Diese Techniken und Verfahrensvarianten der dritten und vierten Generation stehen seit Graetzels Pionierleistung prinzipiell zur Verfügung, ihre potenziellen Anwendungen sind aber noch zu entwickeln. Die Farbstoffsolarzelle ist eine der effizientesten alternativen Solarzellentechnologien, mit der derzeit Wirkungsgrade von bis zu 12% erzielt werden.2 Das grosse Potenzial der neuartigen Zellen beruht auf ihrer Einfachheit. 

Kann Solarstrom im Beton entstehen 

Zunächst konzentrierte sich die Entwicklung technischer Anwendungen von Farbstoffsolarzellen auf glasbasierte transluzente Module. Aus Sicht des Bauwesens bzw. der Architektur liegt aber die Frage nahe, ob sich die Technologie der Farbstoffsolarzellen auch auf Baustoffe wie Beton anwenden lässt. Hier setzt das Projekt «DYSCrete»3 von Klooster und Klussmann an: Sein Ursprung war die Vision eines Betonklotzes, der, einmal mit Fruchtsaft übergossen, Strom produziert. Angestrebt wird die experimentelle Entwicklung eines energieerzeugenden Betons – oder genauer: eines neuartigen Verfahrens zur photoreaktiven Funktionalisierung (stromproduzierenden Veredelung) von Oberflächen aus Beton mittlerer Güte –, das auf den technischen Prinzipien der farbstoffsensitivierten Solarzelle beruht.

Der mittels elektrochemischer Reaktionen energieerzeugende DYSCrete verwendet, ähnlich wie die chlorophyllhaltigen Pflanzen, zur Absorption von Licht organische Farbstoffe. Für die Energieerzeugung werden, ohne zusätzliche toxische Emissionen, unproblematische Komponenten verwendet. Das Materialsystem ist regenerierbar, weitgehend rezyklierbar und umweltfreundlich.

Beton als Spiegel und Schaltfläche

In die Konzeption und Prototypentwicklung von DYSCrete sind die Erfahrungen aus erfolgreichen Vorläuferprojekten eingeflossen, darunter die Entwicklung des lichtreflektierenden Betons BlingCrete4 und die Ergebnisse des Projekts «Magnetic Patterning of Concrete»5, das die Funktionalisierung von Betonoberflächen mittels elektromagnetischer Streufelder zum Ziel ha. Im Rahmen dieses Projekts wurden unter anderem Verfahren entwickelt, um die Leitfähigkeit der Betonoberfläche zu optimieren – eine Voraussetzung für die dauerhafte Integration möglichst vieler Funktionsschichten der Solarzelle in den Trägerwerkstoff. Ein Spin-off dieser Experimente ist die Entwicklung einer berührungssensitiven Betonoberfläche, die eine Implementierung von Schaltungen in Beton und die Ausbildung ganzer Wandflächen nach dem Touchscreen-Prinzip ermöglicht.

Die Beschichtung produziert den Strom

Inzwischen ist die Praktikabilität des Ansatzes mit einer Reihe von massstäblichen Funktionsmodellen, die einen (im Labormassstab) messbaren Stromfluss generierten, nachgewiesen worden. Beton mit seinen positiven Eigenschaften als Bauprodukt (brandsicher, hohe Festigkeit und Dauerhaftigkeit, vielfältige Einbaumethoden) ist das Trägermaterial des Systems. Darauf wird ein mehrschichtiger Aufbau in einem kombinierten Sprüh- und Sinterverfahren appliziert. Die Systemkomponenten sind im Wesentlichen eine Titandioxidschicht mit eingelagerten photoreaktiven Farbstoffmolekülen, eine Elektrolytschicht und eine dünne Katalysatorfolie. Dieser Schichtaufbau ist zwischen zwei leitfähige Schichten gepackt, die den gewonnenen Strom ableiten.

Die Veredelung des Betons lässt sich gut in die Herstellung von Betonfertigteilen im Hochbau, für Fassaden sowie Wand- und Bodensysteme integrieren. Die Hauptbestandteile Titanoxid und Farbstoff der Prototypen von DYSCrete sind einfach zu gewinnen und frei erhältlich. Das Schichtsystem lässt sich für die Stromgewinnung in spezifischen Spektralbereichen des Lichts bis in kaum sichtbare Bereiche hinein einstellen. 

Ein grosser Vorzug des farbstoffsensitivierten Betons sind die vergleichsweise geringen Produktionskosten. Das System hat das technologische Potenzial einer «Low-Cost Energy Source». Das Verfahren beziehungsweise das Baustoffsystem kann auch die Energie von diffusem Licht nutzen. Das eröffnet für den Baustoff Beton neue Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der gebäudeintegrierten Photovoltaik. 

Anmerkungen 
1 B. O'Regan, M. Graetzel: «A low-cost, high-efficiency solar cell based on dye-sensitized colloidal TiO2 films», in: Nature 353, 737–739 (1991).
2 A. Yella, H. W. Lee, H. N. Tsao, C. Yi, A. K. Chandiran, M. K. Nazeeruddin, E. W.-D. Diau, C. Y. S. M. Zakeeruddin, M. Graetzel: «Porphyrin-sensitized solar cells with cobalt (II/III)–based redox electrolyte exceed 12 percent efficiency», in: Science 6056, 2011, S. 629–634.
3 Die Buchstabenfolge DYSC steht für den englischen Ausdruck «Dye Sensitized Solar Cell» (häufig auch DSSC abgekürzt), das Kürzel «-crete» für den Baustoff Beton («concrete»). DYSCrete wird gefördert durch die Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung BBSR in Deutschland.
4 ZIM-Kooperationsprojekt «Licht reflektierender Beton», Förderkennzeichen KF2364501KI9.
5 ZIM-Kooperationsprojekt «Magnetic Positioning – Entwicklung eines neuartigen Verfahrens zur Oberflächenstrukturierung und Funktionalisierung von Betonwerkstoffen über die Positionierung von Funktionselementen durch lateral modulierte magnetische Felder», in Kooperation mit dem Institut für Physik, Prof. Dr. A. Ehresmann, Universität Kassel, Förderkennzeichen KF2364703KI1.


Multidisziplinärer Ansatz

DYSCrete ist ein neuartiger Verfahrensansatz für innovative energieerzeugende Systeme, entwickelt vom Architekten Thorsten Klooster und Heike Klussmann, Künstlerin und Professorin an der Universität Kassel. Seit 2009 widmen sie sich gemeinsam mit der von ihnen initiierten, inzwischen mehrfach ausgezeichneten Forschungsgruppe «Bau Kunst Erfinden» der Entwicklung neuartiger Materialsysteme im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft.
www.baukunsterfinden.org

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