Sta­bi­le Tra­di­tio­nen fin­den

Neubauten im Erdbebengebiet von Haiti: Traditionelle regionale Bauweisen sind technisch sicherer und kulturell angepasster

Technisches Wissen auf Ingenieurniveau allein garantiert noch kein erdbeben­sicheres Bauen. Das Wissen muss in der richtigen Form zu den richtigen Leuten gelangen – vor allem in Ländern mit einem Grossteil Selbstbauten. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) war beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Pakistan dabei und ist zurzeit in Haiti aktiv. Rückgriffe auf traditionelle regionale Bauweisen können dabei helfen, Neubauten technisch und kulturell angepasster und erdbebensicherer zu machen.

Publikationsdatum
10-01-2012
Revision
01-09-2015
Alexander Felix
Dipl.-Ing. Arch. TUM; Mitglied des Stiftungsrats Architektur Dialoge, Basel

Am 2.1.2010 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7.0 etwa 35 Sekunden lang die Region um Port-au-Prince auf Haiti. Mindestens 180 000 Menschen wurden dabei getötet, und etwa 2.5 Millionen befanden sich zu diesem Zeitpunkt in einem Gebiet, in dem laut Mercalli-Skala deutliche bis massive Gebäudeschäden auftreten. Hinzu kommt, dass in dem seit Jahrzehnten politisch zerrütteten armen Karibikstaat zahlreiche – auch moderne – Bauten aufgrund ihrer schlechten Bauausführung besonders instabil waren. Seit Juli 2010 ist die Deza mit einem «Centre de Compétence pour la Reconstruction» (CRR) vor Ort, um mit Partnern zusammen über die akute Nothilfe hinaus einen langfristigen Wiederaufbau zu initiieren. Dem Architekten Tom Schacher kommt dabei die Erfahrung zugute, die er bei seinen früheren Einsätzen in Erdbebengebieten sammeln konnte. Besonders der Wiederaufbau in Pakistan nach dem Erdbeben in Kaschmir vom 8.10.2005 zeigt exemplarisch, wie wichtig eine angepasste Kommunikation ist.

Theorie und Wirklichkeit

Die meisten Bauten in armen Ländern werden mit einfachsten und billigsten Mitteln von kleinen Bauunternehmungen oder von den Bauherren selbst ausgeführt – Ingenieure sind in den seltensten Fällen beteiligt. Oft werden dabei moderne westliche Bauformen mit Fortschritt gleichgesetzt, obwohl viele dieser Gebäude hinsichtlich der Erdbebensicherheit bei mangelhafter Ausführung besonders gefährlich sind. Das führt zu der absurden weltweiten Situation, dass erdbebensicheres Bauen heute zwar so gut erforscht ist wie nie zuvor, die Verwundbarkeit aber grösser ist denn je. Abgesehen von der Akuthilfe ist es daher notwendig, Kommunikationsmittel und -kanäle zu entwickeln, um das Wissen zu den Akteuren vor Ort zu bringen. Auch müssen traditionelle Bauformen besser erforscht werden, die an die lokalen Möglichkeiten angepasst sind und frühere Erdbeben gut überstanden haben, um bei Behörden, Ingenieuren, Baufirmen und Bauherren das Interesse daran (wieder) zu wecken. 

Nachdem die Nothilfemassnahmen gegriffen hatten, rief die pakistanische Regierung einen Wiederaufbau mit dem Ziel «Build back better» aus. Hierzu gründete sie die Earthquake Rehabilitation and Reconstruction Authority ERRA, die für einen schnellen, kostengünstigen Wiederaufbau sorgen soll. Dazu wurde ein Programm formuliert, das Bauherren, die beim Wiederaufbau erdbebensichere Konstruktionen einsetzen, finanzielle Unterstützung verspricht. Inspektionsteams der Armee sollen die Abnahmen durchführen. Ergänzend kam ein Ausbildungprogramm für erdbebensicheres Bauen hinzu. Die Regierung wollte in ihrem Programm moderne Bauweisen fördern, die nach bekannten ingenieursmässigen Methoden berechen- und prüfbar sind. Die Wirklichkeit zeigte aber schnell, dass der Einsatz von Beton und Stahl nur in wenigen städtischen Regionen überhaupt möglich war, der Transport von Maschinen und Werkstoffen in die ländlichen Regionen jedoch nahezu unmöglich, sicher aber viel zu teuer ist. Ausserdem zeigten nur wenige der am Wiederaufbau beteiligten Nichtregierungsorganisationen Interesse an der Ausbildung in einem der elf Housing Reconstruction Centers. Um den Wiederaufbau dennoch so rasch wie möglich starten zu können, mussten schnell praktikable Lösungen gefunden werden. 

Traditionell und Erdbensicher

In einem ersten Schritt untersuchte die Deza zusammen mit dem UN-Programm für Siedlungsbau (UN Habitat) in der nordwestlichen Grenzprovinz die traditionellen Bauweisen, die das Beben gut überstanden hatten. Die Dhajji-Methode ist eine alte Konstruktionsart, die in Kaschmir auch heute noch verbreitet ist. Viele Häuser in dieser Bauweise widerstanden den Erschütterungen aufgrund ihrer hohen Duktilität weitgehend unbeschadet, obwohl sie direkt auf der tektonischen Störungszone errichtet waren. Der Name ist einer Textiltechnik entlehnt: Ähnlich wie ein Patchworkstoff besteht das Tragwerk aus einer kleinteiligen Holzstruktur. Die Leerräume zwischen den schlanken Konstruktionshölzern werden mit kantigen Steinen und Lehm oder Kalkmörtel gefüllt. Die offensichtlichen Qualitäten der Bauweise ermöglichten es, dass die Behörden sie innerhalb von nur sechs Monaten als erdbebensicher und förderungsfähig anerkannten. Da die Bauherren mit staatlicher Förderung rechnen konnten, wurden innert dreier Jahre etwa 120 000 neue Dhajji-Häuser errichtet.
Um das erarbeitete Wissen lokal zu verankern und international bekannt zu machen, wurde mit finanzieller Unterstützung der Rektorenkonferenz der Schweizer Fachhochschulen ein multidisziplinäres Forschungsprojekt realisiert. Dabei führte die technische Universität von Peshawar Labortests durch, das Londoner Ingenieurbüro ARUP die numerischen Simulationen, die Fachhochschule Tessin (SUPSI) kümmerte sich um die grafische Kommunikation, und UN Habitat in Islamabad trug ihre Felderfahrung bei. Für diese Arbeit erhielt die Deza eine Anerkennung beim Holcim Award 2008. 
Schwieriger gestaltete sich der Einsatz einer anderen vielversprechenden Konstruktionsart, der Bhatar-Bauweise. Als Vorbild dient hier das «Besham Fort», das um 1750 errichtet wurde. In seine dicken Wände sind horizontale Hölzer eingebettet, die wie Ringanker funktionieren. Allerdings waren die Behörden zunächst nicht gewillt, massive Steinwände mit «ein bisschen» Holzbewehrung als erdbebensicher einzustufen – zumal die genaue Funktionsweise rechnerisch nicht nachgewiesen war. Genauere Untersuchungen ergaben dann, dass in 45 cm dicke Mauerwände aus Naturstein alle 30 – 60 cm leiterartige Holzträger eingelegt werden müssen, die möglichst schubfest miteinander verbunden sind. Eine wichtige Rolle spielt die Dachkonstruktion: Während traditionelle Flachdächer aufgrund ihres hohen Gewichts die Wände standfester machen, müssen bei Schrägdächern mit unterhaltsfreundlicher, leichter Wellblechdeckung die oberen zwei Bewehrungslagen in den Mauern mit Vertikalhölzern zu einer Art Ringanker verbunden werden, um eine belastbare und scherfeste Verbindung zwischen Dach und Wand sicherzustellen. 
Im nächsten Schritt mussten die Behörden überzeugt werden, dass auf diese althergebrachte Weise erdbebensichere Häuser errichtet werden können, sodass künftige Bauherren in den Genuss der staatlichen Fördergelder kommen konnten. Die oft im Westen ausgebildeten Regierungs- und Behördenvertreter für diesen angepassten Wiederaufbauweg zu gewinnen, erwies sich als grosse Herausforderung. Überraschenderweise wurde die pakistanische Armee zu einem einflussreichen Fürsprecher, da sie durch ihre Erfahrungen in den Bergregionen schneller begriff, dass die nötigen raschen Erfolge nur durch einen Wiederaufbau im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten erreicht werden konnten. Sie wurde dann auch ausgebildet, um im Wiederaufbauprogramm die Einhaltung der Bauvorgaben überprüfen zu können. Hierzu wurden spezielle Kurse für die Soldaten der Ingenieurkorps entwickelt. Während die Kommandanten über eine technische Ausbildung verfügen, mussten die einfachen Soldaten erst in die Lage versetzt werden, die richtige Ausführung der Bauten beurteilen zu können, um dann die Zahlungen an die Bauherren freizugeben.

Situativ und angepasst

Die Situation in Haiti ist ganz anders als in Pakistan, da das Erdbeben hauptsächlich ein urbanes Umfeld ohne seismische Kultur traf. Zementsteinhäuser und Betonrahmenkonstruktionen sind die vorherrschenden Bauweisen. Die historischen «Gingerbread»-Fachwerkhäuser, die das Erdbeben gut verkraftet haben, werden seit langem nicht mehr gebaut. In diesem Kontext gilt es, eine seismische Kultur im Einklang mit den lokalen Materialien aufzubauen. Die Deza fokussiert ihre Arbeit darauf, die «confined masonry» einzuführen, eine in Lateinamerika verbreitete Mauerwerksart, die eine sehr gute Erdbebensicherheit aufweist. Die Gebäude werden nach dem Aufmauern der Wände in den Ecken durch bewehrte Betonstützen und durch horizontal betonierte Ringanker verstärkt. Durch die Umkehrung des Bauablaufs gegenüber dem Betonskelettbau wird eine gute Verzahnung gewährleistet, sodass sich die Bauteile gegenseitig aussteifen. Noch bevor die Deza ihre Arbeit in Haiti aufnahm, hatte die Regierung das von der Deza für Pakistan ausgearbeitete Material für ein eigenes Handbuch übernommen.
In ländlichen Gebieten Haitis gibt es hingegen eine erdbebengerechte Bauweise: Hütten mit Flechtwerkwänden könnten ein nützliches Vorbild für Notbehausungen sein. Leider bemühen sich aber nur wenige NGO, das Umfeld und das vorhandene Wissen kennenzulernen, bevor sie «Lösungen» vorschlagen. So wird häufig an den Leuten und ihren Bedürfnissen vorbeigebaut mit der Entschuldigung, dass es schnell gehen musste und keine Zeit für «soziologische Studien» war. Die Deza richtet auch in Haiti ihr Augenmerk vor allem auf die Information der Öffentlichkeit und die Ausbildung von Arbeitern, um eine lokale seismische Kultur zu etablieren.

Forschung und Kommunikation

Für künftige Anwendungen sollen mehrstufige Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen: eine wissenschaftliche Dokumentation, die es Bauingenieuren erlaubt, mit den traditionellen Methoden zu arbeiten. Ausserdem soll eine reich bebilderte Kurzfassung Handwerkern und Selbstbauern ermöglichen, ihre Bauten fehlerfrei zu errichten. 
Hierbei ist auch der weitere Einsatz der Hochschulen gefragt – nicht nur um Fakten zu ermitteln, sondern auch um das geeignete Informationsmaterial zu erarbeiten, damit das Wissen erfolgreich an die unterschiedlichen Adressaten weitergegeben werden kann. So können nicht nur künftige Bauten sicherer gemacht werden, es entwickelt sich auch eine interdisziplinäre Kommunikationskultur. Ausserdem stehen die fundiert ausgearbeiteten Materialien bei einer neuen Katastrophe schneller zur Verfügung, da sie bei Bedarf nur noch z. B. sprachlich angepasst werden müssen. Ein weiterer Nebeneffekt: Durch eine breite Verankerung bei Ingenieuren und Bevölkerung werden funktionstüchtige, gut angepasste, historische Bauweisen erhalten und weiterentwickelt, die anderenfalls immer mehr in Vergessenheit geraten würden. 

Magazine

Verwandte Beiträge