Sa­lon Su­is­se: Die nächs­ten 100 Jah­re – Sze­na­ri­en für ei­nen Al­pi­nen Stadt­staat

Résumé

«Die nächsten 100 Jahre» war eine Reihe von Veranstaltungen im Rahmen der Architekturbiennale 2014 in Venedig, initiiert von Pro Helvetia, kuratiert von Hosoya Schaefer Architects und unterstützt von verschiedenen Sponsoren und Medienpartnern.

Publikationsdatum
18-02-2015
Revision
25-08-2015

Im «Salon Suisse» trafen sich Architekten und Ausstellungsbesucher, Wissenschafter und Denker, Politiker, Planer, Städtebauer, Aktivisten, Genossenschafter, Schrifsteller und Medienschaffende, um über die Zukunft der Stadt in der Schweiz zu sprechen.

Die Architekturbiennale wurde in diesem Jahr von Rem Koolhaas in Form eines Rückblicks auf die letzten 100 Jahre ausgerichtet. Unter dem Titel «Fundamentals» untersuchte die Ausstellung die Effekte der Modernisierung in den unterschiedlichen Nationen (Länderpavillons in den Giardini), die Rolle der Industrialisierung auf die Elemente der Architektur (Elements of Architecture im Central Pavilion, dem ehemaligen Italienischen Pavillon) und die Auswirkungen der Globalisierung am Beispiel von Italien (Monditalia im Arsenale). Dieses Interesse am systemischen Lauf der Geschichte spiegelte der «Salon Suisse» in die Zukunft.

Der Blick auf die nächsten 100 Jahre sollte als Gegenthese zu den sehr kurzen Zeiträumen dienen, mit denen Politik und Wirtschaft heute operieren. Der grosse Zeitraum verunmöglicht es, in konkreten Projekten zu denken und mit der Extrapolation von Trends zu argumentieren. Er erfordert vielmehr Strategie und politischen Willen – ja Programm.

Der Zukunftsfähigkeit der Schweiz auf der Spur

Wie machen wir das historisch gewachsene, schicksalhaft sozial- und naturräumliche, kulturelle, infrastrukturelle und wirtschaftliche Gebilde Schweiz zukunftsfähig? Was ist die Gesellschaft und die Zukunft, an der wir Architekten und Städtebauer arbeiten sollen? Was ist unser Auftrag? Ist die grün durchwirkte, um den Alpenraum angeordnete, mit der Welt vernetzte arkadische Metrogartenstadt Schweiz ein mögliches alternatives Modell zu den Megastädten der Gegenwart? Oder in Form eines Gedankenspiels: Was wären Konzepte, Regeln, Institutionen, Geschäftsmodell, Gesellschaftsvertrag und der entsprechende allgemeine Wille, wenn die Schweiz heute neugegründet werden müsste 

Doch «die gegenwärtige politische Lage ist erschütternd. Zwei Fraktionen stehe sich gegenüber: die eine möchte die Schweiz unter einer Käseglocke konservieren, die andere nutzt sie als Geschäftsmodell, um schnell und einfach Geld zu verdienen, eingeschränkt nur von einigen wenigen, ärgerlichen, aber schlussendlich schwachen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Keine der beiden Haltungen resultiert in einer nachhaltigen politischen Zukunft. Um eine Zukunft zu haben, muss die Schweiz wieder zu einem inspirierenden politischen Projekt werden.» (David Gugerli) An Ideen mangelt es nicht: Verschiedene Volksinitiativen schlagen grundsätzliche Weichenstellungen für die Zukunft vor. «In kleinen, aber aktiven Teilen der Bevölkerung werden Modelle des Zusammenlebens ausserhalb des gegenwärtigen kapitalistischen und neoliberalen Gesellschaftsmodells diskutiert und ausprobiert.» (P.M. alias Hans Widmer) «Fragen zu Dichte, Stadt- und Raumplanung interessieren nicht mehr nur die Experten, sondern sind fester Bestandteil einer lebhaften gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung.» (Angelus Eisinger)

Auch auf globaler Ebene und in der EU werden politische Rahmenbedingungen hinterfragt. «Die globale Politik scheint heute die Globalisierung der Weltwirtschaft rückgängig machen zu wollen. Jene wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen zwischen den Nationen, die die Konflikte der Vergangenheit hätten unmöglich machen sollen, werden nun selbst zum Schlachtfeld genau solcher Auseinandersetzungen. Die EU, das Projekt einer politischen Elite, wird von nationalen populistischen Gegenbewegungen in Frage gestellt, denn die Balance der Weltpolitik verschiebt sich spürbar. Die wirklich wichtigen Entscheidungen der Zukunft werden an anderen Orten und von anderen Instanzen getroffen. Kann die Schweiz in ihrer heutigen Form in 100 Jahren überhaupt noch existieren » (Mark Leonard)

Wenige Gewissheiten, aber zunehmendes Wissen

All diese Fragen spielen sich ab vor dem Hintergrund der menschgemachten Unwägbarkeiten auf dem planetaren Massstab. Hier sind «ganz unterschiedliche Szenarien denkbar: Das eine Extremszenario ist eine gut funktionierende Permakultur von sieben Milliarden Menschen im Einklang mit der übrigen Biosphäre; das andere ein ökologischer, wirtschaftlicher und zivilisatorischer Kollaps, der die Menschheit über Jahrhunderte traumatisieren würde». (Kim Stanley Robinson) «Für die Zukunft gibt es wenige Gewissheiten, aber dennoch einige Fixpunkte. Die Menschheit wird weiterhin in einer globalen und vernetzten Gesellschaft leben.» (Kim Stanley Robinson) Es braucht also Spielregeln für das Zusammenleben auf dem Planeten und dessen systemischen Gesetzmässigkeiten, eine zweite Aufklärung, die den Menschen als Teil eines grösseren Systems versteht, die die gegenseitige Bedingtheit von Individuum und Gesellschaft, Kultur und Natur, Technologie und Ökologie, Stadt und Landschaft denken und deuten kann.

«Der einzelne Mensch ist schwach, die Gruppe stark.» (Didier Sornette) Städte sind eine kulturelle Technologie, die durch räumliche Verdichtung und institutionelle Stabilisierung grosse Gruppen möglich macht. «Je mehr Menschen aber zusammenleben, desto eher bildet sich Ungleichheit und desto grösser wird diese. In grossen, vernetzten und wachsenden Gesellschaften werden Reiche reicher und Arme ärmer. Gesellschaftssysteme brauchen daher eine Form der Umverteilung, nicht zu viel, wie es der Kollaps des Kommunismus veranschaulicht hat, aber auch nicht zu wenig.» (Didier Sornette) «Auch Städte selbst folgen dieser Regel des proportionalen Wachstums: gross wird grösser. So folgt die Grössenverteilung von Städten einer präzisen Hierarchie mit nur wenigen und erklärbaren Ausnahmen. Diese Regeln sind konstant und die Hierarchien geschichtlich stabil, obwohl für den Einzelnen in seiner individuellen Wahrnehmung der Wandel zu überwiegen scheint. Je grösser Städte sind, desto mehr Austausch und Möglichkeiten bieten und desto weniger Infrastruktur benötigen sie pro Einwohner.» (Denise Pumain) «Um im globalen Wettbewerb mithalten zu können, sind Städte daher gezwungen zu wachsen.» (Denise Pumain) «Unklar sind dabei die Systemgrenzen. Sind Städte wirklich so nachhaltig, wenn alle Externalitäten eingerechnet werden » (Didier Sornette) 

Differenzierte Räume gestalten

China und Japan, in denen sich Städte «rasant entwickeln» (Jiang Jun) beziehungsweise «bereits wieder schrumpfen» (Hidetoshi Ohno), sind Versuchslabore für Entwicklungsstrategien und -fehler. «Um Lebensqualität zu bieten, muss die Stadt dem menschlichen Massstab entsprechen». (Jan Gehl) «Jeder Ort einer Stadt ist eine kleine Gesellschaftseinheit, die subsidiär mit anderen Einheiten in grösseren Zusammenhängen verschachtelt sein soll. (Jiang Jun) «Im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung ging die Fähigkeit, solch differenzierte Räume zu gestalten, verloren. Das Dörfliche in der Stadt muss wiederentdeckt werden.» (Yoshihari Tsukamoto) «Allerdings sollte der Begriff Stadt nicht ohne Präzisierung verwendet werden. Denn vor allem in Europa besteht eine idealisierte Vorstellung der Stadt fort, die seit etwa 100 Jahren nicht mehr der Realität entspricht. In dieser Vorstellung ist die Stadt ein Ort der kulturellen Dominanz, definiert die Stadtgrenze, oder früher die Stadtmauer, eine Systemgrenze zwischen Natur und Kultur. Stadt muss heute aber vielmehr als funktionale urbane Region verstanden werden, die aus vielen räumlichen Fragmenten besteht, auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt, aber im Alltag doch gut funktioniert. Nicht der visuelle Eindruck, die Form, ist von Bedeutung, sondern vielmehr die dahinterliegenden strukturellen Abhängigkeiten. Diese funktionalen urbanen Regionen oder Metropolitanregionen werden heute von keiner Planungsdisziplin wirklich bearbeitet.» (Angelus Eisinger)

«Es braucht daher Programme zur Zusammenarbeit über traditionelle institutionelle und administrative Grenzen hinaus, Agglomerationsprogramm, Metropolitankonferenz, grenzüberschreitende Stadtregionen, kreative Genossenschaften und andere partizipative Plattformen, die die Zusammenarbeit fördern» (Ariane Widmer) und so Resilienz erwirken. «Ein urbanes Projekt (projet urbain) kann Stakeholders verbinden und ihnen ein gemeinsames Ziel geben.» (Ariane Widmer) «Das Verständnis von Stadtsystemen, Ökosystemdienstleistungen und vom Massstab der Landschaft wiederum kann dafür klare Rahmenbedingungen definieren.» (Adrienne Grêt-Regamey)

Schweizer Selbstbild neu denken

Mehr als 73% aller Schweizerinnen und Schweizer wohnen in Städten oder Agglomerationen, und doch sehen wir uns noch immer als eine landschaftlich geprägte Alpennation, als ein Zusammenschluss von 26 historisch definierten, territorial verstandenen Ständen. «Die funktional-räumliche Realität hat sich von diesem politisch-administrativen Rahmen wegentwickelt.» (Thomas Held) Stadt und Land stehen im Widerstreit, als dessen «Hüüsli-Meer» gewordene Konfliktzone die Agglomeration gedeutet wird. Aber steckt in diesem Unort und Unwort nicht die ganze konzeptionelle und institutionelle Überalterung, an der die Diskussion krankt? Ist der Stadt-Land-Konflikt nicht vor allem Folge einer obsoleten Optik? Was wäre, wenn wir uns neue Denkmodelle zurechtlegen könnten - funktional und systemisch statt territorial und historisch, der Langfristigkeit verpflichtet statt dem politischen Augenblick unterworfen, «digital unterstützt, als offenes Betriebssystem gedacht» (Hannes Gassert), «professionell verwaltet» (Kenneth Paul Tan), «mit wenigen, aber guten Regeln versehen» (Thomas Wagner), «experimentierfreudig» (Daniela Kuka), «lernfähig und agil» (Frédéric Kaplan)  Der Alpenraum schliesslich gäbe diesem Unterfangen einen spezifischen Rahmen. Die Schweizer Stadt ist landschaftlich geprägt. Die Täler definieren kleinräumige Nischen, die Alpenübergänge grossräumige, ja europäische Vernetzung; die Naturgewalten erfordern das Kalkulieren von Risiken, die fehlenden Rohstoffe das Entwickeln von Innovationen. Die Schönheit und Präsenz der Landschaft schliesslich relativieren und verorten das Städtische. Das so historisch gewachsene Standortmosaik des subsidiär organisierten, polyzentrischen Schweizer Stadtsystems ist unsere wertvollste Infrastruktur. Ihm müssen wir pragmatisch, unideologisch Sorge tragen und es für die Zukunft weiterentwickeln.

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