Mehr als nur Woh­nen

Frau + SIA: Netzwerkexkursion Neues Wohnen in Wien

Die jüngste Reise von Frau + SIA und ihren ausländischen Netzwerk­partnerinnen führte nach Wien, wo Tendenzen im geförderten Wohnungsbau an gebauten Beispiele studiert werden konnten.

Publikationsdatum
10-11-2016
Revision
11-11-2016

Mit dem Airport-Shuttle am Wiener Hauptbahnhof angelangt, stellt man fest: Hier ist das Tor zu Osteuropa. Die Endstation der U-Bahn heisst Bratislava. Mitteleuropa scheint fernab. Vis-à-vis dem Bahnhof beherrschen Krane den «Ersten Campus» mit der eben fertiggestellten Hauptfilia­le der Ersten Bank. Hochhäuser prägen die Skyline. Und hinter dem Bahnhof einer der Entwicklungsschwerpunkte im Wiener Wohnungsbau, das Sonnwendviertel. Es war die erste Etappe eines umfangreichen Besichtigungsprogramms, das die Baufachfrauen aus dem Netzwerk Frau + SIA und ihre Gäste an ihrer dreitägigen Wien-Tour absolvierten. 

Die rot-grün regierte Stadt bekennt sich zum sozial nachhaltigen Wohnbau, will Wohnraum und Entfaltungsmöglichkeiten für alle schaffen. 10 000 neue Wohnungen jährlich sind geplant, «Leistbarkeit, soziale Durchmischung sowie hohe bauliche Qualität» sind die von der Stadt und dem Land Wien definierten Ziele für die geförderten Wohnungen, soziale Nachhaltigkeit, Architektur, Ökologie und Ökonomie die vier Säulen des entsprechenden Beurteilungsmodells. Zum Vergleich: In Zürich sind im letzten Jahr rund 3200 neue Wohnungen ent­standen, 37 % durch Baugenossenschaften. 

Erdgeschoss: Wohnen oder Gewerbe? 

Als Planungsinstrument dienen der «Stadtentwicklungsplan (STEP) 2025» und der «Flächenwidmungs- und Bebauungsplan der Stadt Wien», eine Art Zonenplan, mit dem Art und Mass der baulichen Nutzung, Bauformen, Freiräume und Strassen festgelegt sind. Ziel ist, lebendi­ge Quartiere mit architektonischer Vielfalt und öffentliche Räume von hoher Qualität zu schaffen. Offenbar bestehen in Österreich unterschiedliche Bewilligungs- und Förderungsverfahren für Wohnhäuser und Gewerbebauten, sodass ein Projekt von vornherein auf eine der Nutzungen festgelegt sein muss. Mit Blick auf die Nutzungsmischung ist das fatal: Vielfach entstehen Siedlungen mit Hunderten von Wohnungen ohne ein einziges Geschäft. 

Michaela Trojan, die Geschäftsführerin des Wohnfonds Wien, der Bauträgerwettbewerbe durchführt und Projekte entwickelt, erklärt, es sei schlichtweg unmöglich, Mieter für Ladenflächen in den neuen Wohnquartieren zu finden. Barbara Götz, Inhaberin des Wiener Büros Artec, will das so nicht gelten lassen. «Haltet das Erdgeschoss frei! Wenn einmal eine Wohnung drin ist, bringt man das nie wieder weg. Dann ist die Chance, eine urbane Atmosphäre zu schaffen, vergeben», mahnt Götz mit Nachdruck. Die Praxis, im Erdgeschoss Wohnungen zu planen, müsse dringend gestoppt werden. Beispiel für eine gelungene Erdgeschossnutzung ist das Projekt von Katharina Bayer, (eins zu eins architektur) im Entwicklungsgebiet Nordbahnhof. 

Ideenreich: Aussenraum und Erschliessung 

Die Gestaltung der Gemeinschafts- und der Aussenräume ist anspruchsvoll: Bei der hohen Dichte der Bebauung bleiben oft nur Restflächen, denen die Planerinnen mit einem starken Konzept Identität und Mehrnutzen abzuringen versuchen. Urban Gardening, die Rückeroberung der Dachterrasse und der fortschrittliche Einsatz von Holz im Geschosswohnungsbau lassen sich in Wien abschauen und anschaulich diskutieren.

Inspirierend ist die Vielfalt der Erschliessungstypologien: In manchen Projekten wird die innere Erschliessung zu einer Abfolge von Strassen und Plätzen, die nur den Bewohnern zugänglich sind. Oftmals ist ein Laubengang bei einer grossen Anzahl von Kleinstwohnungen die sinnvollste Lösung; beim Umgang mit den typusbedingten Konsequenzen wie geringe Gebäude­tiefe, monotone Gänge usw. erweisen sich die Planerinnen als ausgesprochen kreativ. 

Smart-Wohnungen, smarte Kosten 

Beeindruckend ist der Kontrast zwischen der Grösse der Gebäude und Ensembles mit ihren nicht selten 150 bis 200 Wohnungen und der Kompaktheit der Wohnungen im Innern: Die kleinen Wohnungen sind ein Ergebnis des «Smart-Wohnungsbau»-Programms, das ein Drittel aller Neubauwohnungen umfasst. Mit kompakten Grund­rissen, tiefer Miete und geringen Eigenmitteln soll speziell für junge Familien, Paare, Alleinerziehende und Singles leistbarer Wohnraum geschaffen werden. Smart-­Wohnen steht für kompaktes, kostengünstiges Wohnen auf der Basis einer optimalen Flächenausnutzung der jeweiligen Wohneinheit.

Dabei sind die Wohnungsgrössen genau vorgeschrieben. Sie reichen von 1-Zimmer-Wohnungen mit 40 m2 bis zu 5-Zimmer-Wohnungen mit 100 m2. Ein spannendes Konzept in einer Zeit, in der der Wohnflächenverbrauch in der westlichen Welt stetig zunimmt. Doch auch dieses Programm darf man kritisch hinterfragen; wenn ein 8 bis 10 m2 grosses Zimmer als angemessen betrachtet wird, sollten die Begründung dafür nicht die ­Gewinnaussichten für einen Bauträger sein, sondern das Ziel, die Lebenssituation von Familien zu verbessern. 

Wiederentdeckung des Kabinetts

In diesem Zusammenhang steht auch die Wiederentdeckung des ­Kabinetts: ein kleines Zimmer, genutzt als Büro oder Dienst­bo­ten­zimmer, manchmal sogar ohne ­Fenster, wie es früher in Wiener Wohnungen üblich war. Das Kabinett macht es möglich, auf 55 m2 statt einer normalen 2-Zimmer-Wohnung eine Wohnung mit zwei abgetrennten Schlafräumen zu planen. Notwendig ist in diesem Fall die Zustimmung der Mieter, und es ist als Variante zu planen, die zu einem späteren Zeitpunkt umgebaut werden könnte.

Generell hat Partizipation in Wien Tradition, die Mieter können über eine Reihe von Fragen mit­bestimmen. Lange Planungsprozesse, die die Kosten in die Höhe treiben, gehören zu den Kehrseiten; hinzu kommt, dass mindestens ein Drittel der zukünftigen Bewohner weder Energie noch Interesse haben, dieses Recht auch wahrzunehmen. 

Wettbewerbe, Kosten und Qualitätssicherung 

Nach schmerzlichen Erfahrungen bei früheren Projekten hat die Stadt Wien ein neues Verfahren zur Qualitätssicherung eingeführt: Für jeden Wettbewerb müssen sich ein Bauträger und zwei Architektur­büros als Team mit einem Projekt bewerben. Den Zuschlag erhält meist das Projekt mit dem innovativsten Nutzungskonzept. Der Wunsch nach Effizienzsteigerung und Kostensenkung im Wohnungsbau stösst auch in Wien auf Hindernisse: «Wir haben schon zu viele Normen und Gesetze. Wem nützen sie? Sie treiben vor allem die Kosten in die Höhe», gibt die Wiener Architektin Elsa Prochazka zu bedenken – und sieht das Problem nicht primär bei der Gestalt der Bauten: «Architektur kostet gleich viel, egal ob sie gut oder schlecht ist.»

Die Kostentreiber seien allem voran externe Faktoren: Bei einem gesetzlich vorgeschriebenen Mietzins von maximal 7.50 Euro pro Quadratmeter kostet in Wien eine neue, 55 m2 grosse 2-Zimmer-Wohnung gerade mal 410 Euro. Mit einer Kapitalisierung von 5 % entspricht diese Miete Erstellungskosten von 1800 Euro/m². Damit müssen jedoch nebst den ­reinen Baukosten auch die Grundstücks-, Grund- und Infrastrukturkosten sowie überlange Widmungsverfahren bestritten werden. Das sei zunehmend schwierig, beklagt Rosa Maria Dopf, Vorstandsdirektorin der Arwag Holding, einer Bauträgerin, die sich auf sozialen Wohnungsbau spezialisiert hat.

Die Reise konfrontierte mit neuen Blickwinkeln und Haltungen, die sich zum Teil erheblich unterscheiden von der Herangehensweise und auch der Rolle der Akteure in der Schweiz oder z.B. in Deutschland. So stand für die Besucherinnen wie auch für ihre Gastgeberinnen ausser Frage, dass der architekto­nische Austausch und die Diskus­sion zwischen Österreich und der Schweiz Aufrecht erhalten werden müssen.
 

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