Klei­ner Kraft­protz

Anfang Juli 2014 wurde im Herzen der Weissenhofsiedlung in Stuttgart das Haus «B10» eingeweiht. Es zeigt, wie innovative Materialien, Konstruktionen und Technologien die gebaute Umwelt nachhaltig verbessern können.

Publikationsdatum
16-07-2014
Revision
01-09-2015

Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima entschloss sich die Politik in Deutschland offensiv zu einer «Energiewende», hin zu erneuerbaren Energien, die es mit allen Mitteln zu fördern gilt. Inzwischen ist dieses Projekt allerdings ins Stocken geraten, denn gerade in Deutschland haben die Lobbyisten der Wärmedämmindustrie und Stromproduzenten eine starke Position, um ihre eigenen Interessen in Fördergesetze einfliessen zu lassen. Den gesamten Baubestand zu dämmen ist aber absurd teuer und zieht eine gewaltige Sondermüllmenge nach sich. Zudem ist Ärger mit Bürgern vorprogrammiert, wenn über ihre Köpfe hinweg Grossprojekte wie Stromtrassen festgelegt und Windrad-Parks angelegt werden. Kurzum: Die Energiewende ist ein unvollendetes Projekt, dem Konzepte und Ideen fehlen, um in ihrem gesellschaftlichen Ursprungskonsens nicht an Dynamik zu verlieren.

Musterhaus als Energieproduzent

In diesem Zusammenhang ist das Haus «B10» zu sehen, das im Zusammenspiel von Neubau und Bestandsverdichtung energietechnische Wirkung verspricht. Die Idee dabei ist, dass in der anstehenden Nachverdichtung «Module» gebaut werden, in denen mehr Energie erzeugt als verbraucht wird. Der Energieüberschuss könnte dann den energetisch schwächelnden Bestand mitversorgen. 

Am 8. Juli 2014 feierte man am sehr prominenten Standort in der denkmalgeschützten Stuttgarter Weissenhofsiedlung die Eröffnung dieses Musterhauses, das als temporäres Projekt etwa drei Jahre stehen bleibt. Sein Vorgänger entstand vor dem zuständigen Bundesministerium in der Berliner Fasanenstrasse und sollte den Beweis erbringen, dass mit einem Wohnhaus so viel Energie erzeugt werden kann wie mit und in ihm verbraucht wird. Das Nachfolgemodell, nach seinem Standort «B10» genannt, soll doppelt so viel Energie «erzeugen». 

Konstruktion

In dem länglichen Haus liegen alle normal nutzbaren Räume auf der vollverglasten, hier zur Strasse hin gewandten Seite. Rückwärtig sind alle Gebäudetechnik- und Sanitärräume entlang der geschlossenen Fassade angeordnet, auf dem Dach wurden Solarzellen montiert. Die Holz-Metall-Konstruktion ist mit Glasfasergewebe beplankt beziehungsweise mit raumhohen, rahmenlosen Aluschiebefenstern (Vakuumscheiben aus China) geschlossen. 

Das Haus wurde in zwei Modulen von einem Fertighausproduzenten vorgefertigt – mit dem üblichen Vorteil hoher Präzision. Aufgestellt auf acht Punktfundamenten, bietet der eingeschossige Baukörper eine Gesamtfläche von 85m2, die sich die Bewohner mit einem Elektroauto teilen. Dass dem Auto überhaupt eine dermassen prägnante Rolle im Hauskonzept zugewiesen wird, hängt mit der deutschen Forschungsbürokratie zusammen: Der Bund fördert die langfristige Analyse der Energieverbräuche aus seinem Etat «Schaufenster Elektromobilität». 

Ausgefeilte Steuerungstechnik

Wann immer das Haus nicht mehr gebraucht wird, liesse es sich in baustoffreine Teile zerlegen. Im Grundriss und im architektonischen Ausdruck sucht man die Innovation vergeblich – auf die kommt es hier auch gar nicht an. Bemerkenswert ist neben der Konstruktions- und Baustofftechnik aber die Steuerungstechnik (alphaEOS), mit der alle energierelevanten Benutzerverhaltens- und Wetterdaten (gewünschte Raumtemperaturen und Nutzungszeiten, Fahrzeugverfügbarkeit, Aussagen des deutschen Wetterdienstes und vieles andere) verknüpft werden, sodass die Energieproduktion im Haus effizient prognostiziert und gesteuert werden kann. Dieser Aufwand wird betrieben, weil das Haus, wie schon angedeutet, etwa die doppelte Energie erzeugen soll, die mit und in ihm verbraucht wird. Der Energieüberschuss des «B10» kommt dem benachbarten Le Corbusier-Haus zugute. 

Modulare Nachverdichtung im energetisch schwachen Bestand

Sieht der Kubus noch so aus, als sei er nur für die sprichwörtliche «grüne Wiese» gedacht, muss die Musterhausfunktion betont werden. Denn dadurch, dass überschüssige Energie die Verbraucher auf kurzem Wege finden soll, empfiehlt sich – wie schon angedeutet – für die modulare Typologie des Hauses «B10» auf jeden Fall die Nähe zum Bestand. Das heisst, wenn es die Bevölkerung mehr und mehr in die Städte zieht, liesse sich mit modularer Nachverdichtung dafür sorgen, dass der energetisch schwache Bestand mit dezentral, an Ort und Stelle erzeugter, umweltfreundlicher, emissionsfreier, erneuerbarer Energie unterstützend versorgt werden könnte. Dazu sind Gestaltungsvarianten zu entwickeln. 

Hier erschliesst sich eine stadtplanerische Dimension. Hatten schon vor Jahrzehnten Studierende die gelegentlich realisierte Idee, Städte mit «Parasiten» zu verdichten, so liesse sich dieses Prinzip umkehren. Mit energetisch produktiven Modulen wandelt sich der Bestand zum Parasiten. Es liesse sich ein Gegenmodell zur hemmungslosen Zersiedelung entwickeln, das nicht nur in Deutschland, sondern ubiquitär eine längst erkannte Fehlentwicklung ersetzt. 

In den nächsten Monaten lässt sich der «kleine Kraftprotz» besichtigen, bevor er dann zunächst zu Bürozwecken und dann zum Wohnen genutzt wird. In diesen Nutzungsperioden werden Verbrauchswerte aufgezeichnet und ausgewertet.

Entwurf, Planung und Bau des «B10» sind aus gemeinnützigen und privaten Mitteln finanziert worden, das Grundstück stellte die Stadt für fünf Jahre kostenlos zur Verfügung.

Weitere Infos: www.aktivhaus-b10.de

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