«Kein Mensch war­te­te auf mich!»

Urs B. Roth war Architekt, bevor er sich als erster und einziger Geometrie-Ingenieur der Schweiz etablierte. Er erforscht mathematische Gesetzmässigkeiten, mit deren Hilfe er räumliche Probleme in Bauprojekten löst. Im Interview spricht er über einen ungewöhnlichen Beruf, interdisziplinäre Zusammenarbeit und komplexe Anforderungen im Bau.

Publikationsdatum
20-07-2012
Revision
01-09-2015

TEC21: Urs B. Roth, womit beschäftigt sich ein Geometrie-Ingenieur?
Urs B. Roth:
Meinen Lebensunterhalt sichere ich als Fachplaner bei Bauprojekten. Es gibt Ingenieure für diverse Spezialgebiete wie Tragkonstruktion oder Gebäudetechnik. Geometrie gehört hauptsächlich zum Themenkreis der Architektur, aber auch hier kann es ratsam sein, einen Spezialisten beizuziehen: Eine präzise geometrische Formgebung kann beträchtliche Kosten einsparen, beispielsweise wenn im Betonbau Schalungen vereinfacht werden. Meist geht es darum, eine architektonische Idee mit komplexen Randbedingungen zu vereinbaren. Ein Beispiel ist das Projekt für das Orientalistik-Seminar der Universität Zürich, das ich für Boesch Architekten und die Ingenieure Walt + Galmarini bearbeitet habe. Geplant war ein unterirdischer, stützenfreier Anbau mit einer vorgespannten Betondecke. Deren ungewöhnliche Form war dadurch vorgegeben, dass das Wurzelwerk der darüber wachsenden Bäume zu schonen war; gleichzeitig sollte die Decke leicht wirken und ein neu entwickeltes, orientalisch inspiriertes geometrisches Muster aufweisen. Meine Aufgabe bestand darin, all diese Anforderungen mit der statisch sinnvollen Führung der Spannkabel in Einklang zu bringen. Der Bau wurde schliesslich nicht realisiert – ein Jammer!
Zurzeit arbeite ich an einer Studie für den Musiksaal des Stadthauses Zürich im Auftrag von Pfister Schiess Tropeano Architekten: Im historischen Saal wird eine Lüftung installiert, die in einem rund um den Raum verlaufenden Bord untergebracht und durch ein Gitter verborgen werden soll. Auch hier gibt es eine Vielzahl von Randbedingungen. Technisch gesehen muss das Gitter 50% Luftdurchlass aufweisen und stückweise demontierbar sein, damit die Apparaturen stets zugänglich bleiben. Gestalterisch sollte es sich auf die Formensprache des Baus von Gustav Gull beziehen. Basierend auf vorhandenen pflanzlichen Ornamenten habe ich ein heckenartiges Geflecht aus ineinandergeschlungenen Kreisen vorgeschlagen. 

Wie entwickeln Sie diese Lösungen?
U. B. R.:
Ich greife oft auf Strukturen zurück, die ich in meinem Geometriearchiv vorfinde. Das sind geometrische Studien, die ich im Laufe der letzten 43 Jahre aus reinem Forschungstrieb entwickelt habe. So basieren die Muster für das Orientalistik-Seminar und für das Stadthaus – obwohl in ihrer Gestalt ganz unterschiedlich – auf der gleichen geometrischen Gesetzmässigkeit. Für Laien ist diese gemeinsame mathematische Basis unsichtbar, mich als Fachmann interessiert sie aber brennend. In diesem Fall handelt es sich um ein Proportionalsystem, das mir in all den Jahren immer wieder begegnet ist und mich unheimlich fasziniert. Im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Glauben gibt es neben dem Goldenen Schnitt beliebig viele Proportionalsysteme, bei denen man durch Skalieren mit dem gleichen Faktor wieder Zusammensetzungen generieren kann. Jedes beliebige Polynom mit ganzzahligen Koeffizienten bildet die Basis eines möglichen Proportionalsystems. Ein Beispiel: Das Polynom dritten Grades x3 + x2 – x – 2 = 0 (mit den Koeffizienten 1, 1, –1, –2) besitzt genau eine reelle Lösung; auf diesem Proportionalsystem basiert ein zwölfseitiger Polyeder, den ich entdeckt und – als Geburtstagsgeschenk für meine damals zwölfjährige Tochter Lisa – Lisaeder getauft habe. 

Im Gegensatz zur zweckgerichteten Tätigkeit des Ingenieurs hat Ihre Forschung den Charakter einer persönlichen Schatzsuche…?
U. B. R.: 
Einen Sinn und Zweck hat meine Forschung nicht – ausser, dass sie mir Spass macht! Ich arbeite zurzeit an einer Veröffentlichung meiner Ergebnisse auf dem Gebiet der Polyeder. In der Regel ist die erste Herleitung meiner Konstruktionen mathematisch unsauber Ich beginne mit Zeichnungen, Skizzen, Rechnungen; zeigt sich eine Struktur, versuche ich, sie am Computer zu bauen. Ich besitze eine Software, die es mir erlaubt, mit einer Präzision von neun Stellen nach dem Komma zu konstruieren. Wenn mir dabei ein Winkel auffällt, den ich aus einem Proportionalsystem kenne, kann ich mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es sich genau um diesen Wert handelt. Für eine wissenschaftliche Publikation aber genügt reines Messen nicht; hier muss ich einen exakten mathematischen Nachweis liefern. Dabei erlebe ich unerwartete Freuden, etwa wenn ich über enorme Umwege, über die Analyse eines ganz anderen Systems, einen Polyeder entdecke und im Nachhinein einen wunderbar einfachen mathematischen Beweis für seine Herleitung entdecke. Die Lösung ist einleuchtend, aber niemand würde darauf stossen, weil niemand je auf die Idee käme, danach zu suchen.

Und auf welchen Umwegen sind Sie Geometrie-Ingenieur geworden?
U. B. R.: 
In der Mittelschule hatte ich einen hervorragenden Lehrer, der die Mathematik als kohärentes, präzises Gebäude zu vermitteln wusste. Besonders gut gefielen mir Geometrie und darstellende Geometrie; ich habe offenbar eine Grundbegabung für das Dreidimensionale und genoss es, mir beliebige Objekte räumlich vorzustellen. Nach der Matura wollte ich Mathematik studieren, zögerte aber, weil ich schon damals wusste, dass mich nur ein ganz kleiner Teil der Mathematik interessiert. Ausserdem wollte ich etwas Abstand zu meiner Familie gewinnen. Daher habe ich unter dem Vorwand, mein Französisch aufzubessern, ein Praktikum in einem Genfer Architekturbüro begonnen. Weil mein Vater Architekt war, lag das natürlich nahe. Ich hatte das Glück, bei Jean-Marc Lamunière eine tolle Stelle zu ergattern, die mich für das Architekturstudium motiviert hat. Die Mathematik habe ich als Autodidakt weiterbetrieben. Auch später, als ich mit Xaver Nauer ein Architekturbüro führte, habe ich jede freie Minute dazu genutzt, geometrische Gesetzmässigkeiten zu erforschen. 
Dass diese Leidenschaft eines Tages zu meinem Beruf werden sollte, war nicht geplant, sondern das Ergebnis einer schlimmen persönlichen Krise. Ich erlitt einen stressbedingten Gehörsturz und landete notfallmässig im Spital. Die Ärzte rieten mir, mich beruflich neu zu orientieren. Eine Psychologin fragte mich, welchen Traum ich am liebsten verwirklichen würde. Ich antwortete spontan: «Den grossen Saal des Zürcher Kunsthauses mit meinen Polyedern füllen!» Sie sagte: «Tun Sie es.» Zuerst hielt ich das für unmöglich – kein Mensch wartete auf mich und meine Polyeder! Während der Rekonvaleszenz beschloss ich, es trotzdem zu versuchen. Es gab so viele Architektinnen und Architekten, die ihre Arbeit besser machten als ich; aus einer speziellen Begabung einen eigenen Beruf zu machen ist dagegen nur wenigen gegeben. Diesen Entscheid meinen Freunden und meiner Familie zu erklären war allerdings schwer, schliesslich hatte ich für zwei kleine Kinder zu sorgen. Viele dachten, ich hätte den Verstand verloren. Jetzt, 20 Jahre später, habe ich es geschafft: Ich bin etabliert und habe Aufträge, auch über die Landesgrenzen hinaus. Doch der Weg war hart, und es war unglaublich viel Wille nötig, um durchzuhalten. Meinen Beruf gab es ja nicht, und bis heute existiert kein Berufsbild, kein Verband und keine Norm, auf die ich mich stützen könnte. 

Inwiefern stellt Ihr Hintergrund als Architekt heute einen Vorteil dar?
U. B. R.:
 Zwar arbeite ich heute nicht mehr als Architekt, aber die Faszination für den Raum ist geblieben. Auf vielen Studienreisen habe ich Bauwerke erlebt, die mich tief beeindruckt und geprägt haben. Das Verständnis für den architektonischen Raum kommt mir heute zugute, meine Auftraggeber schätzen es sehr, dass ich ihre Sprache spreche. Auch bei meiner Lehrtätigkeit profitiere ich davon: Ich unterrichte «Einführung in den Raum» für angehende Szenografinnen und Szenografen an der Zürcher Hochschule der Künste. Insofern hat sich alles wunderbar gefügt, und im Nachhinein muss ich wohl für die grösste Krise meines Lebens dankbar sein. Ich freue mich jeden Tag auf meine Arbeit und habe nicht die geringste Lust, mich zur Ruhe zu setzen.

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