«Je­der An­fang setzt neue En­er­gie frei»

Barbara Jehle begann im Alter von Ende 40 ein berufsbegleitendes Studium in Bauingenieurwesen in Zürich. Wie ihr Umfeld auf diese Entscheidung reagierte und wie man sich als «Exotin» an der Hochschule fühlt, beschreibt sie im Gespräch mit TEC21.

Publikationsdatum
19-10-2012
Revision
01-09-2015

TEC21: Frau Jehle,  als Sie mit dem Studium begannen, waren Sie Ende 40. Warum haben Sie sich relativ spät für ein Studium entschieden?
Barbara
Jehle: Nach dem Abitur habe ich eine betriebswirtschaftliche Ausbildung gemacht. Als Prokuristin im Familienunternehmen habe ich alle Höhen und Tiefen der Baubranche miterlebt. Ich habe im Laufe der Zeit viele Fortbildungen im betriebswirtschaftlichen Bereich gemacht und etliche ehrenamtliche Aufgaben wahrgenommen. Parallel dazu sind unsere drei Kinder herangewachsen, die inzwischen alle ihr Studium abgeschlossen haben und im Berufsleben stehen. Doch es kam der Zeitpunkt, an dem es wichtig wurde, meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Hermann Hesse sagte: ‹Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne›. Ich möchte hinzufügen: Jeder Anfang setzt neue Energie frei. 

Sie haben sich für das Bauingenieurwesen entschieden, obwohl dieser Berufsstand ein relativ schlechtes Image hat. Wäre für einen Neubeginn ein geisteswissenschaftliches Fach nicht naheliegender gewesen?
B. J.:
Die Annahme, dass Bauingenieure ein schlechtes Image haben, hält den jüngsten Ereignissen nicht stand. Die Leistung der Ingenieure am Gotthard zum Beispiel wird allgemein gewürdigt. Das Ingenieurwesen gehört zu den soliden beruflichen Errungenschaften des Bürgertums, sein Image musste nicht mit Geldleistungen gefördert werden. Ich wollte meinen betriebswirtschaftlichen Werdegang mit technischem Wissen ergänzen, und ich möchte in der Baubranche weiterarbeiten, weil mich das Bauen fasziniert.  

Die Vorlesungen finden bei Ihrer Studienform in der Regel abends und am Samstag statt. Ist es tatsächlich möglich, Bauingenieurwesen berufsbegleitend zu studieren?
B. J.
Das Studium ist schon sehr zeitintensiv. Wir haben einen hohen Anteil an Selbststudium und viele Exkursionen. Ich bewundere meine Kommilitonen, die neben einer 100-Prozent-Stelle dieses Studium absolvieren.  

Wie reagieren Ihre viel jüngeren Kommilitonen auf Sie?
B. J.: 
Es war für alle sicher gewöhnungsbedürftig, eine Exotin dabei zu haben. Bei Studienbeginn war ich die einzige Frau unter Männern, die zudem jünger waren als meine Kinder. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich einer anderen Generation angehöre, und die Jungs waren von Anfang an sehr zuvorkommend. In ihrer Gesellschaft fühle ich mich wohl und habe meine Freude an ihnen. Ich gehöre dazu, aber unterscheide mich dennoch. Das kommt vor allem bei Exkursionen zum Tragen. Eine grössere Lebenserfahrung bringt einen anderen Blick für Risiken und Gefahren mit sich, und ich sehe Bauen als gesamtheitlichen Prozess, der sich weder auf ökonomische, ökologische, architektonische noch kulturelle Aspekte oder gar den Zeitgeist reduzieren lässt. 

Sie können also von Ihrer Lebenserfahrung profitieren. Steht sie Ihnen auch im Weg?
B. J.: 
Die jungen Leute sind fix im Denken und haben eine spontane Herangehensweise. Mir fiel das Lernen am Anfang schwer. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dennoch ist es sehr zeitintensiv. Zudem war es ungewohnt, wieder Prüfungen zu schreiben.  

Haben Sie mit Ihren Kindern Mathematik und Physik geübt?
B. J.: 
Ich war für die Sprachen zuständig. Bei mathematischen oder physikalischen Fragen habe ich meine Kinder zu ihrem Vater geschickt. Heute bereue ich das. Ich wäre bei Studienbeginn à jour gewesen und hätte eine Menge Zeit gespart. 

Wie reagiert die Familie, wenn die Ehefrau und Mutter plötzlich nur noch das Studium im Kopf hat?
B. J.: 
Mein Mann stand meinem Studium von Anfang an positiv gegenüber, und wir waren uns auch im Klaren darüber, dass ein solches Vorhaben scheitern kann. Die Kinder wohnen weit weg, wir sehen uns drei bis vier Mal im Jahr. Sie spüren natürlich meinen Zeitdruck. Beispielsweise durfte mein Sohn mit mir bei einem kurzen Aufenthalt in Zürich den Dachraum der Wädenswiler Kirche von Grubenmann1 besuchen, gehofft hatte er auf eine Einladung zu Kaffee und Kuchen. Grundsätzlich steht die Familie hinter der Entscheidung. Lediglich meine Mutter ist weiter der Überzeugung, dass Bauingenieur ein Männerberuf ist.  

In einem Buch aus den 1960er-Jahren ist erläutert, warum sich Frauen nicht als Ingenieure eignen: ‹Der erste Grund dürfte sein, dass es im Allgemeinen nur wenige weibliche Wesen gibt, die mathematisch begabt sind, oder wenigstens begabt genug, um den Anforderungen der Höheren Mathematik oder Technischen Mechanik gerecht zu werden, wie sie das Ingenieurstudium nun einmal verlangt2?
B. J.: 
Es gab und gibt viele mathematisch und technisch begabte Frauen. Obwohl ich noch nicht abgeschlossen habe, möchte ich junge Frauen dazu ermuntern, diesen Beruf zu erlernen. Zudem würde ein grösserer Frauenanteil der Branche gut tun. Die Kommunikation verändert sich im Beisein von Frauen.  

Haben Sie schon Pläne für die Zeit nach dem Studium?
B. J.: 
Ich möchte auf jeden Fall wieder zu 100 Prozent ins Berufsleben zurückkehren. Während des Studiums habe ich einige Zeit bei einem beratenden Ingenieur für Umweltplanung Teilzeit gearbeitet. Ich könnte mir aber auch vorstellen, mich im Verbandswesen oder im Bereich der erneuerbaren Energien zu engagieren. 

Anmerkungen

  1. H. U. Grubenmann, TEC21 42-43/2009
  2. Hans Baumann: Über den Beruf des Bauingenieurs, Bauverlag Wiesbaden-Berlin, 1960, vergriffen
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