Ist es «Com­mon Ground»?

Am 29. August 2012 öffnete die diesjährige Architekturbiennale in Venedig ihre Tore. Alberto Caruso, Chefredaktor von archi, sprach mit Pierre-Alain Croset, dem Kurator der Ausstellung von Luigi Snozzi im Arsenale, über die Bedeutung von Snozzis Werk.

Publikationsdatum
27-08-2012
Revision
01-09-2015

Alberto Caruso: Wie interpretieren Sie das Thema «Common Ground» und welche Ergebnisse erwarten Sie von einer Biennale, die unter diesem Motto steht?
Pierre-Alain Croset:
Das Thema ist ein Klassiker der Moderne, das allein ist bereits ein positiver Faktor. In den 1920er- und 1930er- Jahren schlossen sich einige Protagonisten der internationalen Avantgarde zusammen, um Interessenverbände wie den CIAM ins Leben zu rufen, mit denen die Rolle der modernen Architektur gestärkt werden sollte. Diese hegemonische Sicht der Architektur gründete zwar auf einer tiefen kulturellen, politischen und soziologischen Naivität, aber unter den Architekten herrschte eine Solidarität und eine intellektuelle Grosszügigkeit, die in unserer von einer schweren wirtschaftlichen und moralischen Krise geprägten Zeit eine neue und positive Bewertung verdienen. Die Wahl dieses Themas ist daher von grosser Bedeutung. Ich hoffe, dass es auf der Biennale zu ganz konkreten Momenten der Solidarität unter Architekten kommen wird, nicht im Sinne eines rein berufsständischen Zusammenhalts, sondern in Form eines neuen sozialen und politischen Engagements. Ich weiss nicht, ob es der Architekturausstellung gelingen wird, diese Idee mit Leben zu füllen. Ich wünsche mir, dass die Architekten auf den Begleitveranstaltungen, aber auch bei formlosen Begegnungen auf den Eröffnungstagen Lust haben werden, über das Thema zu sprechen und deutlich zu machen, dass sich zur Zeit etwas ändert und dass die Ära des überzogenen Narzissmus und der individualistischen Exzesse zu Ende geht. Dass Biennale-Direktor David Chipperfield neben drei sehr aktiven und in der zeitgenössischen Szene präsenten Schweizer Architekten auch Luigi Snozzi für die Ausstellung in der Corderie eingeladen hat, ist eine klare Anerkennung des grossen Einflusses seines Denkens auf die Architektur.  

Welche Rolle kann Ihre Ausstellung vor diesem Hintergrund spielen?
P-A. C.:
Die Einladung durch Chipperfield erscheint mir vollkommen logisch, denn Snozzi ist einer der wenigen europäischen Architekten, die sich in den letzten 30 Jahren für eine «kollektive» und «politische» Idee der Architektur eingesetzt haben. Im Mittelpunkt seiner planerischen Aktivität standen der Dialog zwischen dem Architekturobjekt und dem Kontext, die kritische Neuauslegung der Geschichte und Geografie des Ortes. Das alles geschah kompromisslos und mit einer ausserordentlichen Kohärenz. Das führt dazu, dass Luigi Snozzi gleichzeitig hoch aktuell und unzeitgemäss ist. Ich weiss, dass Chipperfield Snozzis Denken sehr bewundert. Das geht auf die 1990er-Jahre zurück, als Chipperfield Snozzi in Lausanne begegnete, wo er Gastprofessor an der EPFL war. Dazu fällt mir ein Interview ein, das in einem der ersten Hefte von «El Croquis» über die Arbeit David Chipperfields veröffentlicht wurde. Dort erklärte der Architekt, dass seine Arbeit in jenen Jahren von Snozzis Interpretation des städtischen Raums beeinflusst wurde. Diesen Einfluss sieht man nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch in der Formensprache. Am Justizpalast von Salerno oder an den ersten Berliner Bauten von Chipperfield erkennt man eine Formensprache, die immer stärker «puristisch und klassikorientiert» ist und gleichzeitig den Kontext in wachsendem Masse miteinbezieht. Es wäre interessant, mit Chipperfield und Snozzi am gleichen Tisch darüber zu sprechen, aber sicherlich hat auch Roger Diener Chipperfields Arbeit beeinflusst. 
Um auf die Frage über die Rolle der Installation von Snozzi auf der Biennale zurückzukommen, kann ich sagen, dass wir uns bemüht haben, die Kohärenz und den langen Atem der Ideen von Snozzi über die Stadt hervorzuheben, und zwar in Form einer Collage von Aphorismen, die bis in das Jahr 1973 zurückreichen. Dazu kommen Projektskizzen, die einen «Common Ground» bilden, an dem andere Architekten arbeiten können.  

Hat die Arbeit von Luigi Snozzi in der Tessiner Gemeinde Monte Carasso heute nach über dreissig Jahren noch Vorbildcharakter? Und hat sich dieser Vorbildcharakter in der heutigen Situation, in der die Beziehung zwischen Bauvorhaben und Raumplanung so anders, so uneinheitlich und so verwirrend ist, verändert?
P-A. C.:
Monte Carasso ist eine in Europa einzigartige Erfahrung, die auf die aussergewöhnliche Dauer des Prozesses zurückgeht, den Luigi Snozzi seit 30 Jahren als leitender Architekt betreut, der an allen städteplanerischern und architektonischen Entscheidungen beteiligt ist. Die aussergewöhnliche Dauer ist auch dem Bürgermeister Flavio Guidottti zu verdanken, einem der wenigen weitsichtigen Politiker, die ebenfalls an der Nachhaltigkeit von Massnahmen interessiert sind. Nach dreissig Jahren ist er letztes Jahr in Rente gegangen. Daher würde ich die Frage mit Ja beantworten: Monte Carasso hat auch heute noch Vorbildcharakter, vielleicht sogar in stärkerem Masse als früher. Leider ist es jedoch das einzige Projekt dieser Art geblieben und wurde nicht von anderen Gemeinden in der Schweiz oder in anderen Ländern aufgegriffen. In der Architekturausstellung in Venedig wird die Idee «Common Ground» in Zusammenhang mit Monte Carasso durch einen Film des Regisseurs Alberto Momo dargestellt, an dessen Entstehung Luigi Snozzi als Autor mitgewirkt hat. Im Mittelpunkt des Films stehen die Menschen, die das aussergewöhnliche Experiment von Montecarasso persönlich erlebt haben: Einwohner, Kinder, Politiker und Architekten, deren Stimmen die Bilder von Spaziergängen und Veranstaltungen in der Tessiner Gemeinde begleiten.  

Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach die Entscheidung von David Chipperfield, das Werk Luigi Snozzis zu zeigen, in einem Umfeld, in dem die Bilder der Projekte von Stararchitekten die neueste Architektengeneration massgeblich beeinflussen?
P-A. C.:
Aus der Wahl von Chipperfield geht die tiefe und in breiten Kreisen geteilte Enttäuschung über die grossen Gesten der Architekten hervor – Bauwerke, die oft nach wenigen Jahren zahlreiche Mängel aufweisen und heute untragbare Betriebskosten haben. Viele der so genannten Stararchitekten werden jedoch in Venedig präsent sein. Snozzi war darüber schockiert, da er keinen Gemeinsamkeiten zwischen sich, Zaha Hadid und Norman Foster sieht. Wer eine «trendige» Biennale erwartet, wird vermutlich enttäuscht sein, da die Kuratoren sehr wenig Zeit hatten und daher von Anfang an keine strenge Auswahl der Teilnehmer an der internationalen Ausstellung vornehmen konnten. Ich bin sehr neugierig auf die Ergebnisse, und glaube, dass es gute Beiträge geben wird. Das Thema ist gut gewählt und anregend. 

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