Gra­fi­sche Sta­tik zum Ver­ständ­nis der Kräf­te

Mit den Mitteln der grafischen Statik suchte Pier Luigi Nervi einerseits der zunehmenden Trennung von Architektur und Ingenieurwissen-schaften in zwei voneinander unabhängige Disziplinen zu begegnen. Andererseits verlagerte er damit das Gewicht von der «konstruktiven Intuition» hin zur «Kenntnis[se] dieser mathematischen Entwicklungen, welche […...] die sogenannte Theorie der Tragstrukturen begründen». Die BLOCK Research Group an der ETH Zürich greift auf diese Methode zurück und hat mit eQUILIBRIUM, eine internetbasierte Lehr-und Lernplattform für den Tragwerksentwurf entwickelt.

Publikationsdatum
05-09-2013
Revision
30-10-2015

Pier Luigi Nervi ist für seine eleganten Bauwerke in Stahlbeton wie etwa den Palazzetto dello Sport in Rom und den Busbahnhof an der George Washington Bridge in New York bekannt. Er vertrat eine Haltung, die er als «konstruktive Ehrlichkeit» bezeichnete, und förderte durch sein Werk eine ganzheitliche Herangehensweise an den architektonischen Entwurf mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen Ästhetik und tragstruktureller Effizienz zu stärken. 

Wie andere Konstrukteure seiner Zeit, z. B. Robert Maillart, Gustav Eiffel und Eladio Dieste, verwendete Nervi die grafische Statik als Grundlage für viele seiner Entwürfe und Berechnungen. Die grafische Statik ist ein Verfahren zur Ermittlung des statischen Gleichgewichts von Tragwerken mittels geometrischer Konstruktionsweisen. Sie basiert auf dem Zusammenhang zwischen der geometrischen Form und dem inneren Kräftefluss eines Tragwerks, der durch reziproke Diagramme, den Lageplan und den Kräfteplan, dargestellt wird. 

Nervi sah in der Verbreitung grafischer Methoden ein Mittel, wichtigen Herausforderungen seiner Zeit zu begegnen. Dies war zum einen die zunehmende Trennung von Architektur und Ingenieurwissenschaften in zwei voneinander unabhängige Disziplinen, die sich in der Entstehung separater Fachbereiche widerspiegelte. Zum anderen war es die Abkehr von der sogenannten «konstruktiven Intuition» zugunsten der »Kenntnisse dieser mathematischen Entwicklungen, die […...] die sogenannte Theorie der Tragstrukturen begründen»1. Er forderte, dass die grafische Statik eine wichtige Rolle in der Ausbildung sowohl von Architekten als auch von Ingenieuren spielen solle, «da ihre Handhabung gegenüber analytischen Methoden ein direktes Verständnis der Kräfte, ihrer Zusammensetzung, ihrer Zerlegung und ihres Gleichgewichts ermöglicht»2.

Analytische Methoden verdrängen grafische Statik

Das Bild 1 zeigt die Fotografie einer Zeichnung Nervis zur grafischen Ermittlung des Tragverhaltens der Flugzeughallen in Orvieto, Orbetello und Torre del Lago Puccini unter dem Einfluss verschiedener Nutzlasten. In der Zeichnung wird sowohl eine gleichmässig über die gesamte Spannweite verteilte Schneelast als auch eine Kombination aus einer ungleichmässig verteilten Schneelast und einer Windlast untersucht. Die Annahme, dass jede der dokumentierten Weiterentwicklungen des Entwurfs eine ähnliche grafische Untersuchung erfordert hätte, verdeutlicht, dass die Verwendung der grafischen Statik mit zunehmenden Anpassungen mühsam und zeitaufwendig werden kann. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass grafische Methoden mit dem Anbruch des Informationszeitalters von analytischen und numerischen Methoden verdrängt wurden. Heute lassen sich die -Methoden der grafischen Statik mithilfe neuer digitaler Werkzeuge in parametrischen CAD-Programmen verwenden, in denen geometrische Abhängigkeiten regelbasiert definiert werden können. Dies ermöglicht die Konstruktion interaktiver Zeichnungen, die sich vom Nutzer dynamisch verändern lassen, und erlaubt die Echtzeitvisualisierung der wechselseitigen Beziehung von Form und Kraft innerhalb eines statischen Systems.

Nervi als Vorbild

Inspiriert von Nervis didaktischen Methoden und mittels der beschriebenen Möglichkeiten entwickelte die BLOCK Research Group an der ETH Zürich eQUILIBRIUM, eine internet-basierte Lehr-und Lernplattform für den Tragwerksentwurf. Über die Auseinandersetzung mit interaktiven Modellen statischer Systeme bietet eQUILIBRIUM Architekturstudenten die Möglichkeit, frühzeitig ein intuitives Verständnis für das Tragverhalten ihrer Entwürfe zu entwickeln. Ziel ist es, in Anlehnung an Nervi einen ganzheitlichen Ansatz zu fördern, der Tragwerksentwurf und Tragwerksanalyse in einen Prozess integriert. 

Die Lernplattform eQUILIBRIUM dient nicht nur zur Veranschaulichung der Methoden der grafischen Statik, sondern erläutert zugleich, wie komplexe Tragwerke – beispielsweise die Flugzeughallen von Nervi oder die Salginatobel-Brücke von Maillart – mithilfe einfacher geometrischer Methoden entworfen und analysiert werden können.

Momentaufnahmen einer interaktiven Zeichnung auf eQUILIBRIUM veranschaulichen die Analyse des Tragverhaltens der Flugzeughallen von Nervi sowohl unter ihrem Eigengewicht als auch unter dem Einfluss einer beweglichen Nutzlast. Im Querschnitt haben die Flugzeughallen eine parabolische Form. Das Eigengewicht kann in einzelne Punktlasten zerlegt werden, die auf die Knotenpunkte der rhombischen Gitterstruktur einwirken. 

Die horizontale Verteilung der Lasten ist jedoch nicht gleichmässig, denn das Gewicht der Parabelsegmente variiert je nach deren Länge. Daher lässt sich eine geringe Abweichung der Kettenlinie, die dem tatsächlichen Gewicht des Tragwerks entspricht, von dessen parabolischer Mittelachse feststellen. Sie liegt jedoch innerhalb der Geometrie des Tragwerks. Der Nutzer kann mithilfe eines Schiebereglers den Konstruktionsprozess der Zeichnung Schritt für Schritt nachvollziehen. 

Die Wirkung einer zusätzlichen Punktlast, die an unterschiedlichen Positionen entlang der Spannweite der Dachstruktur platziert wird, ist in Bild 2 illustriert. Der Nutzer kann die Position und Grösse der Punktlast interaktiv verändern und so das Tragverhalten der -Struktur unter verschiedenen Lastfällen untersuchen. Wer wie Nervi entwerfen möchte, kann mit eQUILIBRIUM auf spielerische Weise interaktive Formfindungsprozesse und die grundlegende Analyse zweidimensionaler Tragwerkssysteme erforschen. Die Online Lernplattform ist ein Beispiel dafür, dass die von Nervi angewandten Methoden bis heute nichts an Aktualität verloren haben – im Gegenteil, dank digitaler Werkzeuge sind sie vielleicht relevanter denn je. 

Dieser und weitere Beiträge zu Pier Luigi Nervi sind erschienen in TEC21 37/2013 «Pier Lu­i­gi Ner­vi»

Anmerkungen
1 P. L. Nervi, Structures. Chicago 1956. F. W. Dodge Corp., S. 24.
2 Ebd., S. 21.

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