Geo­lo­gi­sche Tie­fen­la­ger

Soziale, ökologische und wirtschaftliche Auswirkungen auf die Standortregionen

Die Schweiz sucht ein Endlager für radioaktive Abfälle; im Sachplan Geologische Tiefenlager werden sechs Regionen für jeweils unterschiedliche Lagertypen evaluiert. Welches sind die Auswirkungen auf die Standortregionen? Ein Experte nimmt Stellung.

Publikationsdatum
04-12-2014
Revision
25-08-2015

Für schwach- bis hochaktive Abfälle sind Standorte in der Aargauer Gemeinde Villigen sowie jeweils in den Zürcher Gemeinden Weiach, Stadel und Marthalen im Gespräch; für die Lagerung von schwach- und mittelaktiven Abfällen sind derweil Däniken, nahe des KKW Gösgen, Neuhausen am Rheinfall sowie der Wellenberg bei Wolfenschiessen NW in Prüfung. Unabhängig von den geologischen Untersuchungen werden zusätzliche Analysen durchgeführt, wie sich Bau und Betrieb (über 100 Jahre) der zusätzlichen Lagerinfrastruktur wirtschaftlich, ökologisch und gesellschaftlich auf die potenziellen Standortregionen auswirken wird. In einem Schlussbericht der Bundesämter für Energie respektive Raumentwicklung sind die Resultate dar- und einander regional gegenübergestellt. 

Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft

Im Bereich Wirtschaft unterscheiden sich die Ergebnisse nur wenig, weil sie direkt von den in allen Standortregionen fast identischen Investitionsvolumen abhängen. Profitieren werden vor allem das Hoch- und Tiefbaugewerbe; touristisch und landwirtschaftlich geprägte Regionen sind dagegen eher sensibel und deren Wirtschaftspotenzial vom Tiefenlager potenziell negativ betroffen.

Im Bereich Umwelt zählen unter anderem die Anbindung an das Bahn- und Strassennetz, der Verlust von Fruchtfolgeflächen oder Wildtierkorridoren sowie der Umgang mit Ausbruchmaterial. Lokal können zudem Schutzgebiete und Grundwasserschutzzonen betroffen sein. Die Indikatoren im Bereich Gesellschaft konzentrieren sich auf den Siedlungsraum, hinsichtlich formulierter Entwicklungsperspektiven und geltender Raumentwicklungskonzepte.

Roman Frick, Gesamtprojektleiter der sozialökonomisch-ökologischen Wirkungsstudie (SÖW) und Partner der Beratungsfirma Infras, nimmt Stellung. 

TEC21: Radioaktive Abfälle sind wenig begehrt; am liebsten würde man wohl auch die sichtbare Begleitinfrastruktur für ein Endlager verstecken. Wie werden die abgelegenen, ländlichen Regionen in der sozialökonomisch-ökologischen Wirkungsstudie beurteilt?
Frick: Das kommt auf den Wirkungsbereich an: Beispielsweise sprechen die «primären Wirtschaftseffekte» für Standortregionen, die auch städtische Gebiete beinhalten. Deren allgemeine Wirtschaftskraft ist grösser als in ländlichen Standortregionen. Bei der Bewertung der Raumplanungsindikatoren gibt es hingegen tendenziell bessere Noten, je weiter weg sich die Infrastrukturbauten von dicht besiedelten Gebieten und vor allem von Wohngebieten befinden. 

Welche der drei Nachhaltigkeitsbereiche wird – standortunabhängig – am stärksten durch die Begleitinfrastruktur eines Tiefenlagers beeinträchtigt?
Frick: Ich meine, am stärksten betroffen ist ganz klar der Bereich «Gesellschaft». Die 6 bis 8 Hektar grossen Flächen für die Oberflächenanlage und allfällige zusätzliche Verkehrsinfrastruktur verursachen raumplanerisch relevante Eingriffe. Zudem bleiben die Eingriffe über 100 Jahre bis zum Verschluss des Tiefenlagers erhalten. An allen Standorten erhöht sich der Zersiedelungseffekt. Für die gesellschaftliche Wahrnehmung spielt aber auch die Qualität eine Rolle, weil eine Tiefenlager-Oberflächenanlage keine Rüeblifabrik ist. Die Wirkungen im Bereich Umwelt sind ebenfalls bedeutend, aber stärker durch die Bauphase geprägt. Ausserdem werden die Ökosysteme wie Schutzgebiete, Wildtierkorridore etc. nicht in ihrem Gesamtbestand, sondern in der Regel nur partiell beeinträchtigt. Bei den Wirkungen im Bereich Wirtschaft betreffen die primären, direkt von den Investitionen erzeugten Beschäftigungseffekte die gesamte Standortregion. Potenzielle sekundäre Effekte etwa auf Tourismus und Landwirtschaft dürften hingegen umso bedeutender sein, je näher sich die Oberflächenbauten befinden. 

Abgesehen von geologischen Aspekten und Sicherheitsfragen: Welche Standortregionen profitieren am meisten von einem Tiefenlager bzw. sind am wenigsten stark betroffen?
Frick: In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Unterschiede für die Mittellandregionen sehr gering. Deren Wirtschaftskraft ist grundsätzlich überall in der Lage, das Gros der sogenannten innerregionalen Absorptionspotenziale auszuschöpfen. Im Wellenberg wäre der Anteil pro Kopf der Bevölkerung aber am grössten. Raumplanerisch bewerten wir die zwei Standorte Nördlich Lägern (NL-6 Stadel) und Jura Ost (JO-3+ Villigen) am wenigsten negativ. Bei Letzterem wäre der Zersiedelungseffekt gering, weil der Standort unmittelbar neben PSI und Zwilag und in einer naturräumlichen Kammer liegt. Beim Standort NL-6 Stadel sticht die geringe Sichtbarkeit, die von Kiesgruben geprägte Umgebung und die Verkehrserschliessung ohne sensible Dorfquerungen hervor, was zur weniger problematischen Bewertung im Bereich Gesellschaft führt. 

Werden die Resultate dieser Analyse eine Rolle spielen, wenn die Standortgemeinden und Regionen über die Abgeltung nationaler Leistungen verhandeln?
Frick: Das Bundesamt für Energie sagt dazu ganz klar Nein. Ich persönlich teile diese Einschätzung. Die Abgeltungsfrage ist hochpolitisch, und die Kriterien für einen zukünftigen Verteilschlüssel müssen viel differenzierter sein als die SÖW. Beispielsweise hat unsere Analyse die Wirkungen auf den zukünftigen Finanzausgleich und die Kompensationsleistungen, zum Beispiel für Flächenverluste, ausgeklammert. Auch der Kostenaufwand für die Sicherheitsaspekte ist noch nicht enthalten. Zweck der sozialökonomisch-ökologischen Wirkungsstudie ist primär, dem Optimierungsprozess zur Anordnung der oberflächennahen Tiefenlagerbauten zu dienen. Und zudem soll sie die Relevanz möglicher Chancen und Risiken aufzeigen, die es für die regionalen Entwicklungsstrategien zu berücksichtigen gilt. 

Die Wirkungsabschätzung erfolgt über einen Zeitraum von 100 Jahren. Wie genau sind dabei die Resultate?
Frick: Dieser lange Zeitraum war der Hauptgrund für eine derartige Wirkungsabschätzung, die mit einer Potenzialanalyse ohne Aussagen zur  Eintretenswahrscheinlichkeit zu vergleichen ist. Wenn man neben den Projektauswirkungen auch Annahmen für unterschiedliche Referenzentwicklung (Bevölkerung, BIP, Transportaufkommen etc.) darstellen müsste, wären die Resultate kaum interpretierbar. Ein gutes Beispiel sind die Bevölkerungsprognosen in den Standortregionen: Völlig unabhängig von der Tiefenlagerfrage divergieren diese zwischen Bundesamt für Statistik, den Kantonen und den Gemeinden zuweilen stark. 

Als Ergänzung zu dieser Expertenstudie werden die Kantone eigene Analysen zu den Chancen und Risiken präsentieren: Wo dürften die grössten Unterschiede liegen?
Frick: Die sogenannte «Gesellschaftsstudie» wird anfangs 2015 starten. So wie ich das Pflichtenheft und die methodische Vorstudie der ETH Zürich kenne, geht es um umfangreiche Bevölkerungsbefragungen. Man möchte die Ängste, gesellschaftliche Strömungen etc. möglichst frühzeitig erkennen. Hingegen dürften hierbei kaum wirtschaftliche Wirkungen quantifiziert und zwischen den Regionen verglichen werden. Der Bund prüft zurzeit die Möglichkeit für vertiefte volkswirtschaftliche Wirkungsstudien in Etappe 3 des Sachplanverfahrens.

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