Form Fol­lows Na­tu­re

Die Natur diente schon immer als Vorbild für Konstruktion und Entwurf. Mit dem Thema beschäftigte sich Anfang 2012 auch eine Ausstellung im Berliner Architekturforum Aedes. Die dazu erschienene Publikation versammelt 25 Essays, die das Themenfeld von Architektur, Mathematik und Philosophie bis zur Biologie, Ethnologie oder Komposition beleuchten.

Publikationsdatum
25-10-2012
Revision
01-09-2015

Ein gerüttelt Mass an Zivilisationskritik empfängt die Leserinnen und Leser schon im Vorwort: So schreibt der Herausgeber Rudolf Finsterwalder, der herstellende Mensch bewege sich ausserhalb der Ordnung und schade damit der Natur. Der Text thematisiert die Mathematikgläubigkeit der abendländischen Kultur und die daraus entspringende Vorstellung, Natur müsse stets etwas mit Proportionen und Harmonie zu tun haben und der Mensch sei durch seine «Gottesebenbildlichkeit» das Mass aller Dinge. Allerdings erwähnt der Autor beizeiten, dass proportionale Anleihen keine Garanten für ästhetische Formen sind, sondern nur ein Werkzeug. Dazu kommt, dass die Natur dem Chaosprinzip viel ähnlicher ist als deterministischen Gesetzen. Tatsächlich finden sich in der Publikation neben Vertretern eines konventionellen Schönheitsbegriffs auch solche, die dem Zufall eine Chance lassen.

Zugang zur Praxis

Anregungen für die architektonische Praxis bieten ein Interview mit Frei Otto oder dessen Essays über Schalentiere und Seifenblasen. Auch die Artikel über die Typologie des japanischen Wohnhauses und die Bauten von Naturvölkern, der organische Ansatz von Frank Lloyd Wright oder die Ideen des deutschen Architekten und Komponisten Herman Finsterlin mögen hilfreich sein. Allerdings fragt man sich, wo Hugo Häring bleibt oder Friedensreich Hundertwasser – und erinnert sich dann an das Vorwort, in dem der Anspruch auf Vollständigkeit explizit nicht er­hoben wurde. Dafür stellt der Herausgeber des Buchs, der in der Nähe von Rosenheim ein eigenes Architekturbüro führt, fünf seiner eige­nen Projekte vor.

Beispiele zum Staunen

Die Perspektive der Ingenieure prägt die Abschnitte über technische Biologie, funktionelles Design und Konstruktionsmorphologie. Hier ist man dem Gedanken der Effizienz verpflichtet und deutet diese als vorherrschendes Prinzip der Natur. Sehr anschaulich sind die Gegenüberstellungen von natürlichen Vorbildern und menschlichen Artefakten wie Sägeblättern, Injektionsnadeln, Saugnäpfen, Holzbohrern oder dem Klettverschluss. Ein Text über Muster untersucht die Zeichnung von Tierfellen, die Struktur der Schneeflocken, Dünenlandschaften in der Wüste, Meereswellen, Regenbögen oder Spiralgalaxien. Sympathisch ist, dass der Mathematiker Ian Stewart das Staunen noch nicht verlernt hat.

Ungewohnte Zusammenhänge

Besondere Erwähnung verdient der Essay von Dieter Dolezel: Der deutsche Komponist mit philosophischem Hintergrund bemüht die Trias von Material, Struktur und Form, um Musik als gestaltete Zeit zu erklären – eine Zeit, die sich verräumlicht und an Grundrissen oder Fassaden ablesbar wird. Dabei bleibt der Autor keineswegs bei den Fibonacci-­Reihen oder dem Goldenen Schnitt stehen, sondern zeigt anhand einer Mandelbrotmenge oder der Chaostheorie Wege auf, komplexe Formen zu entdecken, die eher an ­Wucherungen erinnern als an Konstruktion.
Das Personen- und das (kurze) Sachregister sowie die Bibliografie runden das auf Deutsch und Englisch geschriebene Buch ab.

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