Ex­pe­ri­ment als In­stru­ment

Pier Luigi Nervi war der Überzeugung, dass sich das reale Verhalten eines Tragwerks nicht allein durch abstrakte, konstruktionswissenschaftliche Berechnungen bestimmen lässt. So führte er zeit seiner Karriere zahlreiche Modellversuche durch.1

Publikationsdatum
05-09-2013
Revision
30-10-2015

Neben den Tests, denen der italienische Ingenieur seine innovativen Konstruktionen bei jedem Bauprojekt unterzog, entwickelte er zahlreiche seiner Projekte mit einer Methode, die auf der Verwendung von Modellen in kleinem Massstab2 beruhte. Damit gehörte er neben dem Spanier Eduardo Torroja3 und später dem Schweizer Heinz Hossdorf 4 zu den wichtigsten Vertretern dieses Forschungsbereichs.

In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts enstanden erstmals Modelle, die nicht nur die Geometrie des untersuchten Bauprojekts nachbildeten, sondern auch die chemisch-physikalischen Eigenschaften der verwendeten Baustoffe. Möglich wurde dies dank der neu entdeckten komplexen physikalischen Ähnlichkeitsgesetze5 und durch den Einsatz von Präzisionsmesstechnik. So konnten alle Lasten, die auf die geplante Konstruktion einwirkten, in den entsprechenden Proportionen auf die Modelle übertragen werden: Eigengewicht, Windlasten, seismische Einwirkungen usw.6

Nervi wandte diese Methode erstmals im Jahr 1935 an, als ihm die statische Prüfung der Dachkonstruktion aus Stahlbeton für den Hangar in Orvieto, eines seiner bekanntesten Werke, ernsthafte Schwierigkeiten bereitete. Mit seinem aussergewöhnlichen «statischen Instinkt» hatte er das Tragwerk des Hangars auf der Grundlage von sehr einfachen groben Berechnungen entworfen; es gelang ihm jedoch nicht, diese «Intuition» in die für die Ausführung notwendigen detaillierten Berechnungen umzuwandeln.

Die Schwierigkeit bestand hauptsächlich in der Tatsache, dass dieses Tragwerk (eine Art Gitterschale aus sich im 90°-Winkel kreuzenden Trägern, die eine Grundfläche von ca. 110 × 36m überspannt) hochgradig statisch unbestimmt war, was die korrekte Darstellung der Einwirkungen und Verformungen mit den damals verfügbaren analytischen Methoden fast unmöglich machte.

Das Experiment ist der Theorie überlegen

Zu Hilfe kam Nervi der berühmte Ingenieur Arturo Danusso (1880––1968), der am Mailänder Polytechnikum gerade eine Forschungseinrichtung für die Modelluntersuchung von Stahlbetontragwerken gegründet hatte.7 Wie Nervi war auch Danusso überzeugt, dass das Experiment der Theorie überlegen sei. So betonte er immer wieder, Bauen bedeute, «in der Realität tätig zu sein, und da die Realität – wie es uns physikalische Versuche täglich vor Augen führen – extrem komplex und vielschichtig ist, ist die Wissenschaft aufgrund ihres begrenzten Instrumentariums gezwungen, mit Einschränkungen und Vereinfachungen zu arbeiten, wodurch sich eine Kluft zwischen Wissenschaft und Realität auftut».8

Durch die Arbeit an einer physischen Version des zu realisierenden Projekts – wenn auch in Form einer Miniatur – ermöglichten Modelle, die Grenzen der reinen Theorie zumindest teilweise zu überwinden und folglich eine grössere Annäherung an das effektive Verhalten des Stahlbetons zu erreichen. Keine Analysemethode jener Zeit konnte der Intuition Nervis näher kommen.

Das Tragwerk der Hangars wurde daher als (elastisches) Zelluloidmodell im Massstab 1 : 37.5 nachgebaut. Anschliessend belastete man das Modell mit kleinen Gewichten, die an Bändern an den Knotenpunkten der Konstruktion aufgehängt wurden, um Dauerlasten zu simulieren. Die Ergebnisse der Belastungstests bewiesen, dass die Struktur vollkommen sicher konstruiert werden konnte und dass Nervis Intuition folglich korrekt war.9

Belastung bis zum Bruch

Nach diesem geglückten Auftakt vertiefte Nervi die Zusammenarbeit mit Danusso und seinem brillanten Schüler Guido Oberti (1907––2004) und liess zahlreiche andere Projekte im Modell prüfen.10 Das Trio wuchs noch stärker zusammen, als 1951 (auf Danussos Initiative) das Istituto Sperimentale Modelli e Strutture (ISMES) in Bergamo gegründet wurde, ein Forschungsinstitut, das sich im Bereich der Tragwerksmodellierung bald weltweit einen Namen machte.11

1955––1956 hatte Nervi Gelegenheit, das Potenzial des ISMES auf die Probe zu stellen, und zwar im Zusammenhang mit der gemeinsam mit Danusso entworfenen Tragwerksstruktur des Pirelli-Hochhauses in Mailand, das unter der architektonischen Leitung von Gio Ponti geplant wurde. Erneut verlangte die Unzulänglichkeit der theoretischen Prognosen nach einem Modell, denn gemäss den Berechnungen wären dickere Querschnitte und eine Vorspannung in verschiedenen Gebäudeteilen nötig gewesen.

Dank der leistungsfähigen Infrastruktur des ISMES konnte das Hochhaus im Massstab 1 : 15 mit einem Modell aus Mikrobeton und Stahldrähten als Simulation der Bewehrungen nachgebaut werden. Die Ausmasse (es war ca. 9m hoch!) und die verwendeten Materialien ermöglichten die Erprobung des Modells über den elastischen Bereich hinaus, bis zu seinem Bruch. Dies war erforderlich, um eine realistischere Einschätzung der effektiven Sicherheitsmargen zu erhalten.12

Anfang der 1960er-Jahre war Danusso aufgrund seines hohen Alters gezwungen, sein Amt als Präsident des ISMES niederzulegen. Pier Luigi Nervi wurde sein Nachfolger und nutzte diese Position, um viele seiner Projekte jener Zeit im Modell zu prüfen. In den Sechzigerjahren wurden in Bergamo unter anderem der Tour de la Bourse von Montreal, die Arena Norfolk Scope in Virginia, das Eisstadion von Hannover, die Decke des Hauptsitzes der Cassa di Risparmio di Venezia und einige Elemente der vatikanischen Audienzhalle getestet. Nervi nutzte das ISMES auch für Projekte, die er als Berater betreute, wie im Fall der Stahlbetonelemente für den Flughafen von Newark (USA), die den zeitgenössischen «Schirmen» von Félix Candela ähneln.13

«Trial and Error»

Ein ganz besonderer Fall war die St. Mary’s Cathedral von San Francisco, die Nervi ab 1963 gemeinsam mit Pietro Belluschi projektierte.14 Für dieses Gebäude, das sich durch eine imposante Kuppel aus acht hyperbolischen Paraboloiden auszeichnet, wurden im ISMES vier Modelle in unterschiedlichen Massstäben realisiert und getestet, um vor allem die Erdbebensicherheit des Gebäudes zu garantieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen (zum Beispiel bei der Analyse der Hangars) wurden hier die Modelle nicht nur zur Prüfung einer bereits abgeschlossenen Planung eingesetzt, sondern parallel zur Projekterarbeitung entwickelt. 

Die Modelle der Kathedrale zeigen durch ihre Komplexität und Vielseitigkeit, welche Exzellenz Danusso, Nervi, Oberti und das ISMES auf dem Gebiet der Tragwerksmodellierung erreichten. Dies bestätigten auch die weiteren Studien, die die mit dem Ausführungsprojekt beauftragten amerikanischen Ingenieure in Kalifornien durchführten.15 Mit dem Aufkommen von Computern und neuen Methoden der Tragwerksanalyse (zum Beispiel FEM) nahm jedoch die Bedeutung dieser Art von Modellversuchen bald ab; der Einsatz von physischen Modellen im kleinen Massstab beschränkte sich noch auf einige wenige Forschungsbereiche. Eine neue Ära der Tragwerksplanung hatte begonnen. 

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 37/2013 «Pier Lu­i­gi Ner­vi»

Anmerkungen
1 G. Neri, Capolavori in miniatura. Pier Luigi Nervi e la modellazione strutturale, PhD thesis, Turin-Mailand 2010 (Veröffentlichung in Kürze).

2 M. A. Chiorino, «La sperimentazione nell’opera di Pier Luigi Nervi», in: C. Olmo und C. Chiorino (Hg.), Pier Luigi Nervi. Architettura come Sfida, Cinisello Balsamo 2010; M. A. Chiorino, G. Neri, «I legami tra Pier Luigi Nervi e la cultura politecnica milanese e torinese», in: S. Pace (Hg.), Pier Luigi Nervi. Torino, la committenza industriale, le culture architettoniche e politecniche italiane, Cinisello Balsamo 2011, S. 131–143; G. Neri, «En miniature: Dilice Modelle des I.S.M.E.S. in Bergamo», in: Bauwelt 101, Mai 2010, S. 20–27.

3 Berühmt sind die Konstruktionsmodelle, die von Torroja für den Gran Mercado de Algeciras und für die Dachkonstruktion des Frontón Recoletos von Madrid in den Dreissigerjahren realisiert wurden. Vgl. E. Torroja, Razón y Ser de los Tipos Estructurales, Instituto Tecnico de la Construcción y del Cemento, Madrid, 1957.

4 H. Hossdorf, Modellstatik, Bauverlag GmbH, Wiesbaden und Berlin 1971.

5 Zum Beispiel die im Pi-Theorem beschriebenen Gesetze. Vgl. E. Buckingham, «On Physically -Similar Systems: Illustrations of the Use of -Dimensional Equations», in: Physical Review IV, Nr. 4, 1914. vgl. ebenfalls H. G. Harris und G. M. Sabnis, Structural Modeling and Experimental Techniques, 2. Auflage, Boca Raton 1999.

6 G. Oberti, «La modellazione strutturale», in: S. Ceccato (Hg.), Pier Luigi Nervi e la sua opera, vom Preiskomitee Ingersoll Rand Italia organisiertes Forschungstreffen, Pressezirkel, Mailand 1980.

7 A. Danusso und G. Oberti, Il Laboratorio Prove modelli e costruzioni: «Il Cemento Armato Le Industrie del Cemento», Nr. 5, 1941.

8 A. Danusso, «Scienza delle costruzioni. Premesse e concetti fondamentali», im Inh., Scienza delle costruzioni, Mailand 1937, S. 1–8, neu publ. in: P. Locatelli (Hg.), La scienza e lo spirito negli scritti di Arturo Danusso, Brescia 1978, S. 7.

9 P. L. Nervi, «Un’aviorimessa in cemento armato», in: Casabella Costruzioni 124, 1938.

10 G. Oberti, «Structural Design and Testing, by Means of Models, of Some Special Constructions (using ferro-cement)», publiziert in den Preprints des International Symposium on Ferrocement, RILEM-ISMES 1981.

11 I Quaderni ISMES 1, Bergamo 1953.

12 Edilizia Moderna 71, Dezember 1960.

13 Vgl. Anm. 6.

14 G. Neri, «I modelli strutturali di Pier Luigi Nervi per la Cattedrale di San Francisco», in: S. D’Agostino (Hg.), Storia dell’Ingegneria, Akten des 3. nationalen Kongresses, Neapel, 19., 20., 21. 4. 2010, Bd. II, Neapel 2010, S. 1131–1140.

15 L. F. Robinson, «Saint Mary’s Cathedral in San Francisco», in S. J. Medwadowski, W. C. Schnobrich und A. C. Scordelis (Hg.), Concrete Thin Shells, Farmington Hills (USA), American Concrete Institute, SP. 28, 1971, S. 185–192.

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