Er­halt durch Ge­brauch

Umbau eines Engadinerhauses zum Wohnraum für ortsansässige Familien; Architektur: Christoph Sauter, St. Moritz

Der Zweitwohnungsanteil im Oberengadin liegt bei durchschnittlich 58 %. Umso aussergewöhnlicher mutet da das Projekt des St. Moritzer Architekten Christoph Sauter an: Von 2009 bis 2011 konnte er ein über 350 Jahre altes Engadinerhaus in Madulain zu einem Zweifamilienhaus für einheimische Mieter verdichten.

Publikationsdatum
09-01-2012
Revision
01-09-2015

Madulain, westlich von Zuoz gelegen, ist mit etwa 180 Einwohnern und Einwohnerinnen nicht nur die kleinste Gemeinde des Oberengadins, sondern besitzt mit 80 % auch einen der höchsten Zweitwohnungsanteile der Region. Als die Bewohner der 1654 erbauten Chesa Rumedius das Haus aus Altersgründen verliessen, stand für die nächste Generation da­her fest, dass sie in dem Bau Wohnungen für ortsansässige Familien realisieren wird. Das Haus sollte benutzt und damit auch ­erhalten werden – nicht nur aus philanthropischen Gründen, sondern ebenso aus ökonomischen.

Wohnwelt aus Holz und Stein

Das ehemalige Bauernhaus, das bis 2004 als Stöckli diente, befindet sich als letztes Haus an der unteren Dorfstrasse gegenüber dem Inn an einem exponierten Standort. Die mit Sgraffiti verzierten Fassaden sind vollständig erhalten und stehen unter eidgenössischem Schutz. Im Gegensatz zu vielen traditionellen Engadinerhäusern durchlief die Chesa Rumedius keine Transformation zum Bürgerhaus, dementsprechend einfach gehalten sind die Interieurs. Die letzten grösseren Umbauten im Inneren fanden in den 1970er-Jahren statt. Die klassische Enfilade des Engadinerhauses, mit­ Stüva (Stube), Chadafö (Küche) und Chamineda (Vorratsraum), wurde dabei nicht tangiert. Im Sulèr, dem Vorraum im Erdgeschoss, der gleichzeitig Zufahrt zur Scheune war, existierten dagegen mehrere Einbauten.

Abbild der Zeitschichten

Das architektonische Konzept sah die Realisierung von zwei Einheiten in den beiden Wohngeschossen vor. Dafür wurden zunächst die nachträglich eingebauten Strukturen vom Erdgeschoss bis unters Dach ausgeräumt. Erhalten blieb die wohl aus dem 17. Jahrhundert stammende Stube im Obergeschoss, die während der Bauphase frei im Luftraum hing und durch Stützen gesichert wurde, bis der neue Boden verlegt war. Darüber hinaus wurde der Bau energetisch ertüchtigt: Dach und Keller wurden gedämmt, Nord- und Ostfassade erhielten eine Innendämmung. Die Gewölberäume an der Südseite wurden mit einem Dämmputz versehen, die Fenster wo nötig ersetzt. Die beiden Einheiten sind an der neuen Eingangssituation ablesbar: zwei Türen, die zusammen ein Tor bilden. Die interne Erschliessung der oberen Wohnung führt durch das Treppenhaus und nimmt im EG einen entsprechenden Bereich ein. Eine neu geschaffene Rampe erinnert daran, dass man hier früher mit einem Wagen in das Haus einfuhr.

Kammern im Erdgeschoss

Das Raumprogramm im Erdgeschoss umfasst die südseitig gelegene Stube, Chadafö und Chamineda; vis-à-vis, im ehemaligen Sulèr, sind zwei neue Schlafkammern eingebaut, ergänzt durch zwei Bäder an den Stirnseiten. Die neuen Räume sind in Holzständerkons-
truktion mit einer Brettstapeldecke aus Fichtenholz realisiert. Letztere sorgt zusammen mit einer Sandschüttung für die akustisch nötige Masse; ihre Profilierung dient aber auch als ästhetisches Motiv und wurde in den beiden Schlafkammern über je zwei Wände geführt. Der Holzboden stammt von Balken der ehemaligen Decke, die beiden Gewölberäume, die früher als Küche und als Vorratskammer dienten, erhielten dagegen einen neuen Terrazzoboden und Fussbodenheizung. Die Gewölbe wurden gesichert und im Hinblick auf die Erdbebensicherheit statisch ertüchtigt, und das Raumprogramm wurde angepasst: Das Chadafö ist jetzt ein Wohnraum, die grössere Chamineda wurde zur Küche umfunktioniert. Die neu verputzten Wände erhielten einen Anstrich mit Kalkfarbe, der analog zu den Verzierungen an der Fassade nass-in-nass aufgetragen wurde.

Loft im Obergeschoss

Im Gegensatz zu den Einbauten im EG lässt der loftartige Ausbau des Obergeschosses die Dimensionen des ehemaligen Sulèr spüren: Ein expressives, selbsttragendes Holzfaltwerk bildet die neue Decke und erlaubt ein Maximum an Raumhöhe. Ein Oculus unter dem Dachgiebel bringt vor allem morgens zusätzliches Licht. Wie einst wird auch heute in der Kammer über der Stüva geschlafen. Die Luke am Boden verweist noch immer auf den räumlichen Zusammenhang. Südseitig befinden sich zudem eine Stube und zwei ursprünglich als Vorratskammern dienende Gewölberäume. Hier sind die Schlafräume untergebracht, während sich die Wohnräume nach Norden, zur Strasse hin orientieren; es wird also über Kreuz gewohnt. Zwei Bäder an den Stirnseiten komplettieren das Raumprogramm. Eine Besonderheit bildet die integral erhaltene Stüvetta: Die komplett aus Arvenholz in Bohlenständerkonstruktion gebaute Stube wurde lediglich gereinigt und zeugt jetzt als Haus-im-Haus von den Raumgrössen vergangener Zeiten. Eine weitere Sonderbehandlung erfuhr die über der Stube im Erdgeschoss liegende Schlafkammer. Die Decke des ursprünglich nur 1.90 m hohen Raumes wurde um ein Brettmass von 50 cm teilweise angehoben, um die Nutzung zu ermöglichen.

Umgebaut, aber nicht verbogen

Die Umnutzung der Chesa Rumedius vom Bauern- zum Wohnhaus vollzieht einen Prozess, den mit dem Rückgang der Landwirtschaft viele traditionelle Engandinerhäuser durchliefen – allerdings bereits vor etwa hundert Jahren. Der Umbau bewältigt diese Entwicklung ohne Kitsch und Pathos – wo Altes sinnvoll erschien, wurde es erhalten, ansonsten wurden angebrachte zeitgenössische Lösungen gefunden. Dass der Grundcharakter des Engadiner-hauses, das vor allem ein Wirtschafts- und Lagergebäude war, weiterlebt, zeigt der nonchalante Umgang mit dem Leerraum: Untergeschoss und Heustall wurden nicht zu Einkommen generierenden Wohnungen ausgebaut, sondern dienen als Möbellager, Weinkeller und Kinderspielplatz – die grossen Leerräume entwickeln im Zusammenspiel mit den teilweise kleinteiligen Wohnräumen einen eigenen Reiz.

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft
privat


Architektur
Christoph Sauter Architekten, St. Moritz.


Projektverantwortung
Sandra Cortesi, Dagmara Zukowska


Tragwerk
Edy Toscano AG, St. Moritz


HLKS-Planung
Edi Spitzli, St. Moritz


Bauphysik
Kuster + Partner AG, St. Moritz


Baumeister
H. Kuhn AG, Sils


Zimmermann
Simon Salzgeber, S-chanf


Schreiner
Gian Max Salzgeber, La Punt Chamues-ch


Fenster
Fausto Gervasi, Poschiavo


Maler
Georg Demonti, Zuoz


Terrazzo
Peter Ebensperger, Prato allo Stelvio (I) 

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