«Ent­wick­lung darf kein Selbst­zweck sein»

Publikationsdatum
11-09-2018
Revision
12-09-2018

Tina Cieslik: Herr Stöckli, die SBB sind – nach der Armee – die zweitgrösste Grundeigentümerin der Schweiz. Was unterscheidet sie von einem klassischen Immobilienentwickler?

Jürg Stöckli: Die SBB gibt es seit über hundert Jahren. Wo der Bahnhof war, hat sich oft das Stadtzentrum entwickelt, und so sind wir zur Eigentümerin grosser Flächen an sehr zentralen, gut erschlossenen Lagen geworden. Seit zehn Jahren haben wir eine intensivierte Entwicklungsstrategie für diese innerstädtischen Grundstücke. Momentan bearbeiten wir schweizweit 160 Pro­jekte in verschiedenen Planungsphasen und mit unterschiedlichen Investitionsvolumen. Mindestens ein Drittel unseres Wohnungsport­folios ist dem preisgünstigen Wohnungsbau vorbehalten. 

Wir waren in der Schweiz der erste Grosseigentümer, der auf das Nachhaltigkeitslabel DGNB gesetzt hat, das alle drei Säulen der Nachhaltigkeit berücksichtigt. Wir sind keine börsenkotierte Firma, sondern planen sehr langfristig – bei Infrastruktur und Personenverkehr ebenso wie bei den Immobilien. Als Bundesbetrieb stehen wir öffentlich stärker in der Wahrnehmung. Es ist daher unsere Verantwortung, uns sorgfältig mit dem Areal und den Wünschen der Behörden und der Bevölkerung auseinanderzusetzen.

Die SBB bestehen aus den Divisionen Personenverkehr, Infrastruktur, Güterverkehr und Immobilien. Letztere ist die einzige, die nicht zum eigentlichen Transportgeschäft gehört. Gibt es Überlegungen, die Immobilien abzuspalten?

Im Gegenteil. Der Zusammenhang zwischen Immobilien, Mobilität und Infrastruktur ist enorm. Es gibt starke gegenseitige Abhängigkeiten: Entsteht eine Überbauung für 300 Leute, hat das einen Einfluss auf die Mobilität. Auf unseren Arealen bewegen sich täglich mehr Menschen, als in unseren Zügen unterwegs sind. Man kann schon heute sagen, dass wir eine Bahn- und Immobiliengesellschaft sind. Zudem: Das Geld, das wir mit den Immobilien verdienen, bleibt im Bahnsystem. Es dient dazu, die Infrastrukturkosten zu senken und die Pensionskasse zu stabilisieren. 

Wie gehen Sie bei einer Planung konkret vor?

Wir analysieren das Quartier und dessen Umfeld im Hinblick auf die Nutzung intensiv und berücksichtigen auch zukünftige Entwicklungen, beispielsweise bei der Mobilität: Kommen die selbstfahrenden Fahrzeuge? Und wenn ja, was braucht es dafür auf dem Areal? Diese Synthese zwischen den aktuellen Bedürfnissen im Quartier, den städtischen Anliegen und den Zukunftsthemen ist spannend. Aus den Erkenntnissen formulieren wir eine städtebauliche Vision, die wir den zuständigen Behörden und der Bevölkerung sehr offen kommunizieren. Wir haben von Anfang an einen transparenten Austausch mit den Städten und nehmen auch deren Feedbacks ernst. Schon in einer frühen Phase schliessen wir mit der Stadt einen städtebaulichen Vertrag ab – das gibt beiden Seiten Planungssicherheit. Steht eine Stadtregierung hingegen nicht hinter einem Projekt, geben wir es lieber auf. 
Mit 160 Projekten in der Pipeline und einem langfristigen Planungshorizont sind wir in der komfortablen Lage, Projekte nach Bedarf vorziehen oder auch hinten anstellen zu können.

Bei zehn Jahren Tätigkeit und aktuell rund 150 Projekten – gibt es inzwischen standardisierte Verfahren, die zur Anwendung kommen?

Es gibt verschiedene Elemente, die standardisiert sind. Früher gab es das ausschliesslich für die Bauphase, mit Checklisten für die Projektleiter. Heute beginnt diese Phase viel früher. Wir beur­teilen ein Projekt anhand unterschiedlicher Kriterien wie Grösse, Lage oder auch politischer Exponiertheit und entscheiden dann, welches Verfahren mit welchen Standards sich für die Arealentwicklung eignet. Seit etwa sechs Jahren ist die Abteilung Development zudem in zwei Einheiten gegliedert: die strategische Entwicklung, die für die Planung bis zur Phase Abschluss Wettbewerb zuständig ist, und die eher operative Entwicklung für die Realisierung. Für beide Phasen sind jeweils andere Kompetenzen gefragt. Dieses System hat sich sehr bewährt. 

Bei der Umsetzung legen wir Wert auf Varianzverfahren, sei es über einen Wettbewerb oder über einen Studienauftrag. Die Ergebnisse werden dann anhand eines vordefinierten Rasters be­urteilt, der der Jury als Orientierung dient. Er beinhaltet beispielsweise den Städtebau oder die Wirt­schaftlichkeit, so sind etwa bereits in diesem Stadium die Lebenszykluskosten ein Thema. Dabei muss jedes Projekt für sich selbst rentieren, aber nicht alle in gleicher Höhe. 

Sie haben die politische Exponiertheit bestimmter Areale angesprochen. Wie gehen Sie mit solchen Flächen um? 

In der Schweiz dauern Planungsprozesse in innerstädtischen Lagen zwischen fünf und acht Jahren. Während dieser Zeit findet in der Regel mindestens eine Wahl statt. Das stellt uns manchmal vor Schwierigkeiten: Die Verantwortlichen wechseln, es kommen neue Gesichter mit neuen Ideen. Wir haben nun begonnen, die Wahlen als Meilensteine in die Terminplanung einzubeziehen, um kritische Phasen besser aufeinander abstimmen zu können. Unsere Areale sind meistens nicht eingezont, und wenn doch, entsprechen sie nicht der Bauzone, die wir brauchen. Es gibt also immer einen Sondernutzungsplan oder einen Gestaltungsplan, dem das Parlament, manchmal auch das Volk, zustimmen muss.

Wir brauchen also eine grosse Akzeptanz – in der Bevölkerung, im Parlament, in der Stadtregierung. Es ist daher wichtig, Interessierte und Be­troffene frühzeitig in den Prozess zu integrieren und die Abläufe so offen zu gestalten, dass man auch noch Dinge ändern kann. Mindestens genauso wichtig ist es, ein Projekt der Öffentlichkeit bekannt zu machen und zu erklären. Es ist zentral, der Bevöl­kerung aufzuzeigen, welchen Mehrwert sie damit erhält. Bei Lausanne La Rasude zum Beispiel handelt es sich heute um ein abgeschlossenes Areal. Künftig wird es offen sein, mit Erdgeschossnutzungen, in denen auch das lokale Klein­ge­werbe Platz hat. Die Bevölkerung soll sehen können, dass es nicht primär um die Maximierung der Rendite geht, sondern um die Aufwertung einer Fläche. 

Ein partizipatives Verfahren wie bei der Quartierentwicklung Neugasse kann helfen, ein Projekt breit abzustützen. Gibt es trotzdem noch Verbesserungs­potenzial? 

Bei solch intensiven Verfahren sind wir natürlich auf Mitwirkung angewiesen. In Zürich ist man sehr engagiert. Aber selbst hier: Personen mit rot-grünem politischem Hintergrund interes­sieren sich eher stärker für den Austausch, das bürgerliche Lager war im Partizipationsprozess bisher leider weniger vertreten. Das ist schade. Wir versuchen herauszufinden, wie wir künftig einen besseren Querschnitt der Gesellschaft erreichen können. Ich möchte an die Leute appellieren, bei den Verfahren mitzumachen oder sich wenigstens zu informieren und abstimmen zu gehen. Entwicklung darf kein Selbstzweck der Firmen sein. Sie muss ein Geben und Nehmen sein, gemeinsam mit der Bevölkerung.

Facts  &  Figures SBB Immobilien

Gesamtfläche Grundbesitz SBB (Mio. m2):  93.9
– Division Infrastruktur: 80.8
– Division Immobilien: 13.1

Anzahl Grundstücke Division Immobilien: 3600

Anzahl Gebäude Division Immobilien: 3500

Anzahl Mitarbeitende SBB Immobilien: 825
– davon Facility Management: 346

Betriebsergebnis 2017 (Mio. CHF): 249 

Investitionen 2018–2023 (Mrd. CHF): 4.3

Bruttoverkaufserlös 2018–2023 (Mio. CHF): 119  


Portfolio Bahnproduktion
Rund 280 eigengenutzte Gebäude und Flächen (v. a. Bürogebäude, Serviceanlagen, Industriewerke, Lager- und Gewebeflächen etc.).


Portfolio Bahnhöfe
Rund 820 Bahnhöfe und Haltestellen


Portfolio Anlageobjekte
Aktuell 67 Anlageobjekte im Bestand, weitere 28 Objekte in Planung und Errichtung.


Weitere Beiträge aus der Sonderpublikation «SBB-Areale: vom Betrieb zur Stadt» finden Sie hier.

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