Ei­ne Bau­i­ko­ne soll de­mon­tiert wer­den

Ingenieurbaukunst

Der russische Staat will den Radioturm des Ingenieurs Wladimir Schuchow demontieren. Eine dringend nötige Zustandserfassung wurde nicht unternommen, Appelle nach einer Restaurierungsstrategie werden ignoriert.

Publikationsdatum
26-06-2014
Revision
18-10-2015

Der Russe Wladimir Schuchow (1853–1939) ist einer der faszinierendsten Ingenieure des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Als Chefingenieur des Industrieunternehmens Bary realisierte er unzählige Konstruktionen – Schiffe, Brücken, Fabrik- und Ausstellungshallen – und plante vor allem Türme. Ein Höhepunkt in Schuchows Œuvre ist der zwischen 1919 und 1922 errichtete Schabolowka-Radioturm1 in Moskau. Der 150m hohe Turm, zunächst sogar 300m hoch geplant, war Russlands höchstes Gebäude und Symbol des technischen Fortschritts und des industriellen Aufstiegs der jungen Sowjetunion. Der einstige Stolz der Nation steht nun – aufgrund einer Entscheidung der russischen Präsidialadministration – kurz vor der Demontage. 

Schuchows Werk wurde in den vergangenen Jahrzehnten vielfach rezipiert. Seit 2010 beschäftigt sich ein internationales Forschungsprojekt2 mit dem Thema. Am Institut für Bauforschung und Denkmalpflege (IDB) der ETH Zürich werden dabei die Herausforderungen der Konstruktionsprozesse, die Herstellungsweisen und die Planungsmethoden untersucht, insbesondere in Bezug auf die Gitterstrukturen. 

Zierlich und stabil

Faszinierend ist die Konstruktionsweise des Turms: Schuchow hatte zuvor für kleinere Türme eine Eisenkonstruktion in hyperbolischer Form entwickelt, stapelt aber diesmal sechs 25m hohe, jeweils hyperbolisch geformte Segmente aufeinander. Das Konstruktionsprinzip ist sparsam (240 Tonnen), gleichzeitig zeichnet es sich durch eine aussergewöhnliche Robustheit aus.

Die gegenläufig geneigten, geraden Träger der Hyperboloidschalen sowie die verstärkten Stahlringe an den vertikalen Stossstellen der einzelnen Segmente führen zu einer grossen räumlichen Stabilität. Die Geometrie des Turms erforderte ingenieurtechnisches Know-how und eine hohe Qualität der Vorfertigung: Herausfordernd sind insbesondere die variablen Radien der hyperbolischen Körper, die unterschiedliche horizontale Winkel an den Kreuzungspunkten der Stäbe zur Folge haben.

Die vertikal unterschiedlich geneigten Oberflächen führen dazu, dass immer wieder andere vertikale Winkel zu den horizontalen Ebenen entstehen. Die Konstruktionsdetails sind typisiert, zeichnen sich aber trotzdem durch Vielfalt, Vielseitigkeit und Varianz aus. Der Bau war und ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung – in Russland hat er dennoch nur den Status eines regionalen Denkmalobjekts. 

Zustand schwer erfassbar

Im Lauf der Zeit wurden Veränderungen am Turm vorgenommen: In den 1970er-Jahren wurden im dritten Segment zusätzliche Ringe angebracht und diagonale Verstrebungen im obersten Segment hinzugefügt. 1991 baute man die Antennenanlage um und fand dabei Hinweise auf Spaltkorrosion. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt wurde der Turm auch das letzte Mal gestrichen, der dabei verwendete Korrosionsschutz ist jedoch nicht bekannt.

Das gesamte Korrosionsbild ist komplex, weil unterschiedliche Eisenqualitäten zum Einsatz kamen: Geplant war es, Profile aus militärischen Beständen zu nutzen, deren Menge reichte aber nicht aus, sodass man letztlich Metalle aus verschiedenen Quellen und mit verschiedenen Qualitäten bezog, u. a. Thomasstahl und Siemens-Martin-Stahl. Heute zeigt sich dies am heterogenen Alterungs- und Korrosionsbild der einzelnen Bauteile.

Eine Herausforderung für die Erhaltung ist die spärliche Dokumentation über den Turm: In der Planungs- und Bauphase wurden die genaue Turmgeometrie sowie die konstruktive Lösung der Details mehrfach verändert. Keine der Überlieferungen stimmt mit der ausgeführten Version überein. 1947 und 1971 erstellte das Forschungsinstitut Proyektstalkonstruktsiya, ein Nachfolger des Industrieunternehmens Bary, Dokumentationen des Turms.

Diese sind allerdings sehr schematisch und erfassen die komplexe Struktur nur unzureichend. Eine Dokumentation, die Turm und Schäden im derzeitigen Zustand beschreibt, fehlt gänzlich. Das wesentliche Problem ist ein ausreichender Zugang zum Turm: Das Gelände gehört dem russischen Staatsfernsehen und ist militärisch abgesichert.

Von der Renovierung zur Demontage

Vor einigen Jahren entschied man, den Turm zu renovieren: 2010 sprach der russische Staat – der Turm ist noch immer im Besitz des staatlichen Fernseh- und Radiounternehmens – ein Budget von 135 Mio. Rubel (ca. 3.5 Mio. Fr.) für diese Massnahme aus. Eine einzige Firma besass alle erforderlichen Lizenzen für die Vergabe. Erfahrungen mit Restaurierungen hatte diese Firma jedoch kaum, solche mit
Eisenkonstruktionen gar nicht; ihr Portfolio bestand lediglich aus privaten Häusern und Wohnungen sowie Umbauten für die russische Präsidialverwaltung. 

Ihr Restaurierungsplan sah eine Demontage der beiden oberen Segmente und Restaurierungsarbeiten an den vier anderen mit einem kostspieligen Spezialgerüst vor, die Details dazu sind jedoch nicht bekannt. Da das Budget für dieses Vorhaben aber nicht ausreichte, entschied im Februar 2014 das Ministerium für Kommunikation, zuständig für das staatliche Fernseh- und Radiounternehmen, dass der Turm komplett demontiert werden soll.

Weltweite Appelle für die Erhaltung 

Der Wiederaufbau des Turms ist vorgesehen, aber ungewiss: Die finanziellen Mittel reichen nur für die Demontage, das innenstadtnahe Grundstück soll nach dem Abbau des Turms anderweitig bebaut werden, ein Ersatzgrundstück ist zurzeit nicht bekannt. 

Der öffentliche Protest in Russland gegen die Demontage war überraschend laut: Über 25.000 Unterschriften wurden gesammelt, Repräsentanten aus Wissenschaft und Kultur, wie die Ingenieure des Forschungsinstituts Proyektstalkonstruktsiya, haben sich besorgt gezeigt. Auf der internationalen Bühne haben sich auch die europäischen und amerikanischen Fachvereinigungen für die Geschichte der Bautechnik in offenen Briefen dazu geäussert.3 In ihrem Schreiben weisen sie auf das grundsätzliche Problem hin: Eine seriöse Dokumentation, die Basis einer Erhaltungsstrategie sein müsste, fehlt. Ein Katalog alternativer Erhaltungs- und Restaurierungsmassnahmen kann deshalb nicht erarbeitet werden.

Am 22. Mai wurde nun ein aktualisierter Projektplan durch die Präsidialadministration veröffentlicht: Das Papier sieht weiterhin die Demontage des Turms als einzige Lösungsmöglichkeit. Ergänzt wurden lediglich zwei Empfehlungen: den Turm «nach Elementen» zu demontieren und bei etwaigen Wiederaufbau möglichst viele der alten Stahlelemente zu nutzen. Die Demontage der Ikone ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit.

Anmerkungen

  1. Alternative Schreibweise: «Schuchowskaja».
  2. «Konstruktionswissen der frühen Moderne: V. G. Schuchows Strategien des sparsamen Eisenbaus». Am Forschungsprojekt beteiligt sind die TU München, die Universität Innsbruck und das Institut für Bauforschung und Denkmalpflege der ETH Zürich.
  3. Offener Brief der Gesellschaft für Bautechnikgeschichte: http://tinyurl.com/bautechnikgeschichte Vgl. auch den offenen Brief von R. Pare und J. L. Cohen, unterschrieben von fünf Pritzker-Preisträgern.

Verwandte Beiträge