Ein Stras­sen­tun­nel un­ter dem Bos­po­rus

15 Minuten für den innerstädtischen Kontinentaltrip

Um die Meerenge zu überqueren, mussten Pendler und Warentransporte bisher Fähren oder eine der beiden Brücken nutzen. Künftig sollen Autos und Minibusse durch einen neuen Tunnel rollen.

Publikationsdatum
21-05-2014
Revision
18-10-2015

Istanbul ist nicht nur eine der grössten Metropolen der Welt, sondern auch die einzige, die auf zwei Kontinenten liegt: Zwei Drittel der Bevölkerung wohnen in Europa, ihre Nachbarn in Asien. Hunderttausende pendeln täglich über die Meerenge. Doch der Bosporus ist nicht nur ein lästiger Störfaktor für die Pendlerinnen und Pendler, sondern auch ein Hindernis für die Schifffahrt: Jeden Tag durchfahren rund 140 Schiffe die 30 Kilometer lange Meerenge, die sich in engen Kurven vom Schwarzen Meer ins Marmarameer windet. 

Die Schifffahrt ist wegen der starken Strömungen gefährlich: Aus dem Schwarzen Meer fliesst ein kräftiger Oberstrom, in entgegengesetzter Richtung ein schwächerer Unterstrom in rund 40 Meter Tiefe. Das Wasser aus dem Schwarzen Meer hat in Richtung Mittelmeer eine Durchschnittsgeschwindigkeit von drei Knoten, die sich stellenweise auf acht Knoten erhöht (1 Knoten = 1 Seemeile pro Stunde = 1.852km/h). 

Im sechsten Jahrhundert v. Chr. liess der persische König Dareios I. eine aus mehreren nebeneinander liegenden Schiffen gebildete Brücke über den Bosporus bauen, über die sein angeblich 700.000 Mann umfassendes Herr für einen Feldzug gegen die Skythen übersetzte. Die erste Bosporusbrücke (1074m) der Neuzeit wurde am 50. Jahrestag der Türkischen Republik, dem 29. Oktober 1973, eingeweiht. Sie entlastete den zeitaufwendigen und nicht ungefährlichen Fährverkehr zwischen den Kontinenten.

Weil das nicht genügte, folgte 1988 rund fünf Kilometer weiter nördlich die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke (1090m). Doch diese beiden Brücken sind mit 300.000 Fahrzeugen pro Tag hoffnungslos überlastet. 2013 begann noch etwas weiter im Norden der Bau der Yavuz-Sultan-Selim-Brücke, über die der Verkehr ab 2015 rollen soll.

Die Tunnels unter dem Bosporus

Mehr noch als bei den Brücken muss bei Tunnelbauwerken die spezielle geologische Situation Istanbuls berücksichtigt werden, denn die Stadt liegt in unmittelbarer Nähe der Nordanatolischen Verwerfung, die rund 20km südlich in ost-westlicher Richtung durch das Marmarameer verläuft. Die Metropole lebt deshalb in ständiger Gefahr heftiger Erdbeben. 

So wurde der Marmaray-Eisenbahntunnel darauf ausgelegt, Erdbeben bis zu einer Stärke von 9 nach Richter und auch einer möglichen Bodenverflüssigung auf sandigem Grund zu widerstehen. Der Tunnel wurde im Oktober 2013 eröffnet und so gebaut, dass er Bodenbewegungen aufnehmen kann. Umfangreiche Simulationen haben ergeben, dass ihm selbst schwerste Erdstösse nichts anhaben können. Die beteiligten Ingenieure sind überzeugt, dass der Eisenbahntunnel künftig einer der sichersten Orte Istanbuls sein wird. 

Weil Eisenbahnstrecken keine grossen Neigungswinkel vertragen, wurde die Marmaray-Tunnelröhre in Kastenelementen auf dem Boden des Bosporus verlegt – 60m unter der Meeresoberfläche. Damit verläuft dieser Bahntunnel so tief wie kein anderer auf der Welt. Autos dagegen können grössere Steigungen bewältigen, das heisst, es sind stärker einfallende Rampen möglich. Die Verantwortlichen des Strassentunnels entschieden sich daher für die konventionelle bergmännische Bauweise. Diese ist auch deutlich kostengünstiger und weniger risikoreich als das Einschwimmen der Kästen. 

Der Avrasya-(«Eurasia»)-Strassentunnel wird etwa zwei Kilometer neben dem Marmaray-Tunnel verlaufen. Anfang Dezember 2012 wurde der Auftrag für das auf rund 900 Mio. Euro veranschlagte Tunnelprojekt vergeben an das türkisch-koreanisches Firmenkonsortium YMSK aus Yapi Merkezi  n aat ve Sanayi A. . und SK Engineering & Construction Co. Ltd. Der 5.4km lange Eurasia-Strassentunnel soll nach den ehrgeizigen Plänen der Bauherrschaft bereits 2015 dem Verkehr übergeben werden (andere Quellen sprechen von 2016 oder sogar 2017 – Anm. d. Red.). Er liegt 27m unter dem Meeresboden, also rund 100m unter Normalnull. Auf der europäischen Seite wird das Tunnelmundloch im Stadtteil Sirkeci südlich des Goldenen Horns liegen. 

In Asien führt die Strecke zum Autobahnkreuz von Göztepe. Insgesamt umfasst das Projekt knapp 15km Autobahn. Der Innendurchmesser des Tunnelbauwerks beträgt 12m, um pro Fahrtrichtung zwei Spuren auf zwei Etagen übereinander aufnehmen zu können. Der doppelstöckige Tunnel wurde gewählt, um den runden Querschnitt optimal auszunutzen. Bei einem einstöckigen bliebe zu viel Tunnelquerschnitt ungenutzt. Diese Entscheidung ist nicht nur nachvollziehbar, sondern stringent. Auf der einen Ebene wird der Verkehr von Europa in Richtung Asien rollen, auf der anderen in umgekehrter Richtung.

Rund 90.000 Fahrzeuge mit geschätzten 120.000 Passagieren werden die Röhre pro Tag passieren. Zugang haben nur Pkw und Minibusse; Lkw, Busse, Motorräder, Fahrräder und Fussgänger dürfen nicht hindurch. Ein innerstädtischer Interkontinentaltrip vom europäischen in den asiatischen Teil Istanbuls dauert auf diesem Weg nur noch rund 15 Minuten. Damit wird die Fahrt zwischen dem Atatürk-Flughafen und dem Sahiba-Gökçen-Flughafen erheblich verkürzt.

Der türkische Traum

Nach ihrer Inbetriebnahme wird die neue Autobahn-Schnellverbindung zwischen Europa und Asien zunächst für 26 Jahre durch das Joint Venture Avrasya Tüneli  letme  n aat ve Yat r m A. . (ATAS) betrieben und anschliessend an die Regierung von Istanbul übergeben. Mit dem Marmaray-Tunnel feierte sich die Republik Türkei zu ihrem 90. Geburtstag durch die Realisation eines seit 150 Jahren erträumten technischen Grossprojekts. Die modernen Bosporus-Querungen sind das bisher fehlende Glied einer Renaissance der ältesten Handelsverbindung der Erde: der Seidenstrasse.

Doch der Traum geht weiter: Zum hundertsten Jahrestag soll parallel zum Bosporus ein 50km langer Kanal Schwarzes Meer und Marmarameer verbinden. Damit würde eine der wegen ihrer Windungen und Strömungen gefährlichsten Wasserstrassen der Welt entlastet und vielleicht ihre alte Schönheit zurückgewinnen. Der Name «Bosporus» bedeutet übrigens so viel wie «Rinderfurt». Denn in der griechischen Mythologie hatte sich einst Io, die Tochter des Flussgottes Inachos, dummerweise mit Götterchef Zeus eingelassen und musste fliehen. Um unerkannt zu bleiben, verwandelte sie sich in ein Rind, überquerte das später nach ihr benannte Ionische Meer und durchschwamm die Meerenge nach Asien – den Bosporus.

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