Ei­gen­ver­ant­wor­tung und Au­gen­mass

Hochwasserschutz in historischen Städten

Dieses Wochenende finden in der Schweiz die «Europäischen Tage des Denkmals» statt. Was aber, wenn historische Stätten immer wieder von Ereignissen wie Hochwassern betroffen sind? In Dresden setzte sich die internationale Tagung «Hochwasser in historischen Städten» mit dem Thema auseinander. Vor grossem Publikum wurde von konkreten Erfahrungen und Massnahmen berichtet.

Publikationsdatum
11-09-2014
Revision
30-10-2015

Die Tagung «Hochwasserschutz in historischen Städten» führte am 13. und 14. Juni 2014 Fachleute aus verschiedenen Kontinenten an der Technischen Universität Dresden zusammen, die eine hohe Kompetenz im Umgang mit Hochwasser-Ereignissen entwickelt hat. Interdisziplinär erforscht sie die Möglichkeiten, deren Folgen mit baulichen und organisatorischen Massnahmen zu reduzieren und ­diese mit dem besonderen Wert von Kulturlandschaften und historischen Ortschaften in Einklang zu bringen.

An der Tagung stellten Fachleute des Wasserbaus, des Bauingenieurwesens, der Stadtplanung und der Denkmalpflege Fallbeispiele vor, berichteten aus ihrem Erfahrungsschatz, zogen Schlüsse daraus und verabschiedeten in der Folge die «Dresdner Erklärung zum Hochwasserschutz an historischen Orten».

Aufgrund der an der Tagung ge­wonnen Erkenntnisse können prinzipielle Forderungen für eine adäquate, breit ausgerichtete Hochwasservorsorge formuliert werden. Diese nützen der Schweiz, da auch hierzulande Wasserschutzprojekte oft ausschliesslich als Domäne von Bauingenieuren und Wasserbauern verstanden werden. Weitere Disziplinen werden – wenn überhaupt – spät und nur zur «Verschönerung» von längst definierten Bauten und technischen Einrichtungen beigezogen.

Aus der Tagung geht indessen hervor, dass Hochwasservorsorge als Bestandteil einer übergreifenden räumlichen Gesamtplanung unter Einbezug der spezifischen Qualitäten des historischen Orts verstanden und umgesetzt werden muss.

Analysieren und Abwägen

Eine erste Erkenntnis der Tagung zeigt, dass der Ort von Interventionen und seine Umgebung – etwa ein Stadtquartier und seine Beziehung zum Fluss – vor Beginn der Projektierung von Schutzvorrichtungen vertieft untersucht werden müssen. Zu dieser Analyse gehören die Geschichte, die städtebaulichen und landschaftlichen Charakteristika sowie die Potenziale für künftige nachhaltige ökonomische, soziale, aber auch gestalterische Entwicklungen. Eine adäquate Hochwasservorsorge muss auf einer solchen gefestigten, breiten Basis aufbauen, die alle relevanten Disziplinen zu Beginn der Überlegungen einbezieht.

Die planenden Bauingenieure sind es gewohnt zu bauen. An der Tagung wurde darauf hingewiesen, dass in gewissen Fällen organisatorische Vorkehrungen bauliche Massnahmen weitgehend ersetzen können. Eine frühzeitige Warnung und die dadurch mögliche, gut eingeübte Installation von Provisorien beispielsweise sind effiziente Mittel zum Minimieren von Schäden.

Bauingenieuren wird zudem häufig eine allzeitige hundertprozentige Sicherheit abverlangt. Jegliches Risiko soll ausgeschlossen werden, auch wenn es nur bei einem äusserst seltenen, lediglich theoretisch fassbaren Extremereignis eintreten könnte. So entstehen technokratische Lösungen zum Vollschutz, die dem besonderen Wert von historischen Siedlungen und Kulturlandschaften nicht gerecht werden.

Mit der Null-Risiko-Mentalität im staatlichen Hochwasserschutz verknüpft ist der Umstand, dass Private die Verantwortung im eigenen Lebensbereich nicht mehr wahrnehmen und diese delegieren. In der Überzeugung, das Gemeinwesen sei umfassend für den Schutz verantwortlich, werden einfachste Vorkehrungen zur Schadensabwehr vernachlässigt oder gar nicht mehr getroffen. Das zunehmende Fehlen von Eigenverantwortung ist gleichermassen bei Hauseigentümer- wie Mieterschaften festzustellen.

Die Tagung beschäftigte sich ausführlich mit dem Bau von Schutzmauern, der naheliegenden Lösung, um den hochgehenden Fluss von den Häusern zu trennen. Fast jede örtliche Situation bietet indessen bessere, differenziertere Lösungen als das Einmauern von Quartieren. Noch heute gilt die Aussage eines Bürgers von Regensburg angesichts dort vorgesehener Baumassnahmen: «Lieber alle 100 Jahre eine Überschwemmung als 100 Jahre hinter einer Mauer leben.»

Viele wünschen sich die Schutzmauer wieder weg, wenn sie einmal gebaut ist. Jedenfalls müssen Mauern präzise den städtebaulichen Gegebenheiten, ja dem einzelnen Haus angepasst sein, dürfen sich nicht als Grossform darüber hinwegsetzen. Und jede projektierte Mauer ist zumindest mit einem langen Teilstück vor Ort nicht bloss abzustecken, sondern als geschlossene Wand zu simulieren. Nur so können sich Laien ein Bild davon machen, was sie sich mit dem Totalschutz einhandeln.

Lösung durch Kompromiss

Verschiedentlich wurde an der Tagung darauf aufmerksam gemacht, dass bauliche Hochwasservorsorge nicht absolut gesetzt werden darf. Sie ist mit anderen öffentlichen und privaten Belangen abzuwägen. Es müssen Lösungen gefunden werden, die nicht nur sicherheitstechnisch, sondern auch städtebaulich und gestalterisch hohen Ansprüchen genügen.

Wird Hochwasserschutz nicht isoliert, nicht mit fachspezifischem Tunnelblick betrachtet, ist ein Optimieren aller relevanten Aspekte unerlässlich. Dies kann durchaus heissen, dass bei den Schutzmassnahmen nicht das Maximum erreicht und unter Umständen ein klar formuliertes Restrisiko im Kauf genommen wird. Normen regeln den Normalfall, dazu werden sie geschaffen – auch in der Hochwasservorsorge. Historische Landschaften und Orte sind aber immer Spezialfälle.

In diesem Kontext sind Normen also flexibel an­zuwenden, Grundsätze zu rela­tivieren, Werte vielleicht zu unterschreiten. Das erfordert einen in­telligenten Umgang mit den Bestimmungen und die Bereitschaft, auch andere Belange als jene des eigenen Fachbereichs als bedeutsam anzuerkennen: Beides kann nicht von jedem Normanwender, noch weniger von jeder Normkontrolleurin vorausgesetzt werden. An der Tagung ist deutlich geworden, dass häufig in zu kleinen, beruflich eng verflochtenen Kreisen gedacht und gearbeitet wird – man kennt sich. Es ist deshalb unerlässlich, dass jede Hochwasservorsorge-Planung von einer Gruppe von unabhängigen Fachleuten kritisch begleitet wird.

Die Gruppe muss interdisziplinär zusammengesetzt sein, um einen gesamtheitlichen Ansatz zu gewährleisten und sektorielles Denken auszuschliessen: Neben Wasserbauern und Bauingenieurinnen sind beispielsweise auch Historikerinnen, Stadtplaner und Architektinnen einzubeziehen. Dabei betrifft das Einfordern der Begleitung aller Projekte durch eine interdisziplinäre Gruppe von aussenstehenden Fachleuten nicht das Endresultat, sondern jeden einzelnen Schritt: von der oben erwähnten Analyse der örtlichen Gegebenheiten bis hin zu den konkreten Lösungsansätzen und deren Umsetzung im Detail.

Weiterführende Literatur
Heiko Lieske, Erika Schmidt, Thomas Will (Hrsg.): Hochwasserschutz und Denkmalpflege. Fallbeispiele und Empfehlungen für die Praxis. Stuttgart 2012

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