Drei Le­ben für das Wür­fel­schloss

Entstehung und Renovation

Die Entstehungsgeschichte der Villa Noailles an der Côte d’Azur verlief etappenweise. Ähnlich erfolgte auch ihre Renovation über zwanzig Jahre in einzelnen Schritten.

Publikationsdatum
11-09-2014
Revision
18-10-2015

Als Hochzeitsgeschenk erhielten Charles und Marie-Laure de Noailles 1923 ein 1.5ha grosses Grundstück an der Côte d’Azur, am Südhang über dem provenzalischen Städtchen Hyères bei Toulon, beim alten Schloss. Begeistert von der Idee, ein von der Sonne durchflutetes Haus zu bauen, kontaktierten sie ihren Landsmann Robert Mallet-Stevens (1886–1945). Für den vom Kubismus inspirierten Architekten war die Villa Noailles der erste ausgeführte Auftrag. Hatte er ursprünglich noch ein Ferienhaus mit bescheidenen 280m2 Wohnfläche geplant, wurde daraus im Endausbau ein Häuserkomplex mit 60 Räumen von fast zehnfacher Grösse. 

Heute blickt das ungewöhnliche Haus – in den 1930er-Jahren ein Treffpunkt der Avantgardekünstler – auf drei Leben zurück: 1923 bis 1933 durch Mallet-Stevens geplant, gebaut und laufend erweitert; nach 1970 jahrelang ungenutzt und verlottert; seit 1975 geschützt und ab 1986 laufend renoviert.

Das ursprüngliche Haus mit Salon und kleinen Schlafräumen steht auf dem Gemäuer des ehemaligen Schlosses. Geplant war eine Betonkonstruktion, gebaut wurde aber konventionell mit Mauerwerk. Beim Ferienhaus blieb es indessen nicht. Das Ehepaar änderte und erweiterte das Raumprogramm: Ein Atelier, eine Schwimm- und eine Squashhalle kamen dazu, ein Gymnastikraum, eine Ausstellungsgalerie und auch Gästezimmer und Kammern für Domestiken und Chauffeure. Diese Bauvolumen addieren sich aus kubischen Elementen, sind ineinander verschachtelt und bilden dennoch dank dem hellbeigen Verputz der Fassaden eine Einheit. 

Ein Ort des Austauschs

Heute zeigt sich der Baukomplex als architektonisches Patchwork, wie ein Würfelschloss. Der Anlass für dieses auswuchernde Bauen waren die zahlreichen Freundschaften, die die Noailles mit Avantgardekünstlern pflegten. Luis Buñuel und Salvador Dalí drehten hier den Skandalfilm «L’Age d’Or». Die Hausherren erwarben Bilder von Dalí, Piet Mondrian und Paul Klee und beauftragten Jacques Lipchitz mit einer Skulptur für den von Gabriel Guévrékian entworfenen kubistischen Garten. Fasziniert von den technischen Neuerungen seiner Zeit, liess Charles de Noailles Hygrometer und Barometer installieren, und noch heute finden sich in den Räumen 14 auf die Wände montierte Uhren des Designers Francis Jourdain. 

Am 30. März 1973, vier Jahre nach dem Ableben von Marie-Laure de Noailles, übernahm die Stadt Hyères die verlassene Anlage für 2.250.000 Franc. Die Räume sollten für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und ihre Funktion als Ort des künstlerischen Austauschs erneut und in zeitgemässer Form erfüllen. Doch offenbar waren rasch nach dem Bau Schäden zu verzeichnen – an den Fassaden, den Terrassen und bei den Flachdächern. 

Nachdem die Noailles den Besitz nach 1933 nur noch sporadisch genutzt hatten, kamen Schäden aus der Besetzung durch italienische und deutsche Truppen bis 1947 hinzu. Ab dann nutzte das Spital Hélio-Marin die Räume für Kinder. 1975 wurde die Anlage unter Schutz gestellt, nun kümmerten sich Studierende der Ecole d’architecture de Luminy TPFE um Massaufnahmen und ein Schadeninventar. 1985 wurde eine Machbarkeitsstudie angefertigt und sichergestellt, dass sich der Staat zu 40% an den Kosten für die Renovation beteiligt.

Prozesshaft renoviert 

Von 1989 bis 2013 folgten verschiedene Etappen der Bauerneuerung – insofern weist die Renovation Parallelen zur Entstehung der Villa auf. Cécile Briolle und Agnès Fuzibet, die mit der Planung und Ausführung beauftragten Architektinnen, setzten zuerst das ursprüngliche Ferienhaus instand, gleichzeitig damit erfuhren auch der Salon rose von 1927 und die Gärten eine Erneuerung. So wurde die Bepflanzung des kubistischen Gartens, die von einem grossen Frost weitgehend zerstört worden war, neu durch farbige Kiesschüttungen angedeutet. Die Architektinnen restaurierten sämtliche Holzfenster, die Bodenbeläge aus Terrazzolith und die mechanischen Teile der Schiebetüren. Sie liessen auch die abgehängten Decken aus der Bauzeit und die Elektroinstallationen ersetzen und den heutigen Normen anpassen. Auf der Dachterrasse wurde das Freiluft-Schlafzimmer mit seinen Glasschiebetüren erneuert, ab 1997 die Umgebung und die Trennmauern im Freien wiederhergestellt. Drei Jahre später folgten Ausbauarbeiten und Anpassungen für die Nutzung als Kultur- und Begegnungszentrum, und schliesslich nahm man von 2005 bis 2013 die Renovation der restlichen Fassaden und der Zugangswege in Angriff.

Original oder adäquat neu

Insgesamt dauerten die Erneuerungsarbeiten mehr als 20 Jahre. Die alten Bauteile wurden möglichst belassen oder durch eigens angefertigte, originalgetreue Elemente ersetzt. Die mit Ziegeln gedeckten Schutzdächer über den undichten Flachdächern, die Charles de Noailles hatte erstellen lassen, wurden entfernt und die Flachdächer mit zeitgemässen Dichtungssystemen erneuert. Die mit Besenstrich neu verputzten Fassaden wirken wie ehedem. Das Becken im Hallenbad ist mit einem gläsernen Boden bedeckt, der Raum wird für Ausstellungen genutzt. 

Was sich den Besuchern heute darbietet, ist eine faszinierende Architektur, erfüllt mit Leben. Bleibt noch anzumerken, dass Cécile Briolle und Agnès Fuzibet ihr Architekturdiplom mit einer Arbeit über die Villa Noailles erlangt haben. Die hier vorliegenden Informationen zur Bauerneuerung entstammen einem bisher nicht publizierten Kapitel zur geplanten Neuauflage des Buchs über die Villa Noailles im Verlag Parenthèses in Marseille, das Cécile Briolle dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung stellte. 

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