Die stei­le Lern­kur­ve der En­er­gie­ef­fi­zi­enz

Das «Haus ohne Heizung» war die Vision. Nun ist das «Haus ohne Kamin» salonfähig geworden. Ein Essay über die Annäherung zwischen Architektur und thermischer Transmission.

 

Publikationsdatum
09-08-2018
Revision
09-08-2018

Frankfurt am Main ist die deutsche Finanzmetropole schlechthin – und ihre Skyline mit Dutzenden Hochhäusern aus Stahl und Glas der glitzernde Beweis dafür. Einige der fast 50 Wolkenkratzer werden als Banken­zentrale, Hotel oder Wohnsitz der Reichen genutzt. Der älteste Turm gehört zum Dom, ist ziemlich genau 500 Jahre alt und 95 m hoch; der höchste, der «Commerzbank-Tower», endet erst bei 260 m. Die postmoderne Vertikale ist aber nicht die einzige städtebauliche Attraktion von «Mainhattan».

In der Altstadt wird das Mittelalter wieder zur Schau gestellt: Zwischen Dom und Römerberg ist das histo­rische Zentrum auferstanden, als hätte man das Rad der Zeit um Jahrhunderte zurückgedreht. Ein klobiger Verwaltungskomplex aus den Nachkriegsjahren musste einer Rekonstruktion des Vorkriegszustands weichen (vgl. «Zeitgemäss historisch»). Das Altstadtareal mit dem sperrigen Namen «DomRömer-Quartier» besteht nun wieder aus akkuraten Spitzgiebelhäusern und bunten Fachwerk-, Schiefer- oder Renaissancefassaden.

Die fünftgrösste Stadt Deutschlands vereint deshalb Gegensätzliches in Raum und Zeit: filigrane Himmelsstürmer im Banken- und Europaviertel sowie handwerklich solide, schnittige Retro-Architektur im Stadtzentrum. Jedes einzelne Format beeindruckt mit einer unübersehbaren Präsenz. Doch neben Lob gibt es dafür, kaum über­raschend, auch Kritik. Die hohen Kosten und die Verschleierungsarchitektur sind Aspekte, die nicht allen Urbanisten gefallen.

Frankfurt setzt aber nicht nur städtebauliche Trends, sondern fühlt sich auch dem ökologischen Zeitgeist verpflichtet. In der Energieszene ist die Metropole als inoffizielle Passivhaus-Hauptstadt Deutschlands bekannt. Die in jüngster Zeit erstellten öffentlichen Bauten erfüllen ebenso wie viele private Wohnsiedlungen allesamt höchste Vorgaben beim Energiestandard. Auch unter den Hochhäusern befinden sich qualifi­zierte Vertreter grüner Architektur.

Und sogar das neo­mittelalterliche DomRömer-Quartier ist hinter der ­Fassadenzier energetisch optimiert: Der Heizwärmebedarf der 13 Rekonstruktionshäuser variiert zwischen 13 kWh/m2 und 40 kWh/m2. Im besten Fall entspricht dies dem Niveau von Passivhäusern; im ungünstigsten wird ein Niedrigenergiestandard erreicht, vergleichbar einem Schweizer Minergie-Haus. So frei man Städtebau und Baukultur in Frankfurt inter­pretiert, so sehr beeindruckt das Selbstverständnis, wie vielfältig man selbst überdurchschnittlich spar­same Gebäude konstruieren und welch ästhetisch variable Energiehüllen man darüberstülpen kann.

Die Wahrnehmung: ein trojanisches Pferd

Eine Frankfurt wesensverwandte Stadt ist Zürich: An der Limmat wird ebenfalls mit Geld und Geist gehandelt, und auch hier mag man nicht mehr Energie verschwenden als zwingend nötig. Der Schweizer Banken­platz ist wie der deutsche ein Pionier und eine Hochburg des energieeffizienten Bauens. Anfang 1990er-Jahre hat man sich in der Innenstadt, in einem kantonalen Amtshaus, das Minergie-Label ausgedacht. Inzwischen treibt nicht nur die Stadtverwaltung ein ökologisches Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft voran.

Doch wäre Zürich Frankfurt, würden viele Debatten hierzulande ganz anders geführt. Denn während im Norden ein Energiesparhaus als Mittel zum Zweck dient, endliche Ressourcen einzusparen, leidet es bei uns unter einem schlechten Ruf. Die Wahrnehmung ist: Das Zertifikat wird eher als Stigma denn als gefälliges Ökodesign interpretiert. Ein Minergie-Haus gilt hierzulande schnell als architektonischer Sündenfall oder zumindest als baukultureller Sonderling.

«Zürich will Modellstadt für ökologisches Bauen werden. Bleibt die Ästhetik dabei auf der Strecke?», fragte die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» vor einigen Jahren. Und die NZZ wunderte sich dieses Frühjahr nach einem Besuch des Ökoquartiers «Greencity» am Südrand der Stadt: «Wollen wir so leben?» Das Bestreben, den Energieverbrauch der Bewohner und Nutzer zu senken, zwinge die Architektur in die Knie. Zwar kann der «nachhaltigste Standort der Stadt Zürich» fast sämtliche Energie- und 2000-Watt-Zertifikate vorweisen, die man erwerben kann. Dennoch gewinnt die kunsthistorisch ausgerichtete NZZ-Kritik seiner Erscheinung – massive und massige Baukörper – wenig Gutes ab.

Warum funktioniert Niedrigenergie in Frankfurt, in nostalgischer Form von Altstadthäusern oder als emporragender Protz? Und warum erkennt ein Zürcher die Ökologie in gebauter Form scheinbar nur als stylisierten Klotz? Ist das wirklich so: Verformt das ökologische Gewissen die bisherige Architektur? Oder benutzt man die Ökoetikette nicht gerne auch als faule Ausrede für mässige ästhetische Qualitäten?

Tatsächlich wird die Energieeffizienz dort zum trojanischen Pferd, wo immer sie als Alibi für rationelle, rendite­orientierte Baukonzepte herhalten muss. Denn viele Zürcher Neubauten, wie in der «Greencity» oder an der Europaallee, sind nicht nur ökobilanziert und zertifiziert, sondern mindestens ebenso akribisch auf Ökonomie getrimmte, kompakte Klumpen.

Energiestandards: objektivierbare Qualität

45 Jahre nach der Erdölkrise kämpft das energieeffiziente und klimafreundliche Bauen immer noch um seine Anerkennung. Wie die Abbildungen auf diesen Seiten zeigen, lassen sich zwar schöne Gebäude auf der Minergie-Liste finden. Trotzdem erhalten die Wegbereiter und ihre Nachfolger bis heute schlechte Stilnoten. In der Zwischenzeit ist aber einiges passiert: In 20 Jahren hat sich der Standard Minergie von einer Marketingidee zum erfolgreichsten Gebäudelabel der Schweiz entwickelt (vgl. «Lieber freiwillig als mit Zwang»).

Jeder achte Neubau ist inzwischen zertifiziert. Nicht nur in Zürich werden ganze Stadtquartiere mit Niedrig­energiestandard aus dem Boden gestampft (vgl. TEC21 14–15/2015). Die «Green Building»-Welle ist für die ­Baubranche von einem Nischenprodukt zum Wachstumstreiber geworden. Stehen aber nicht Zahlen im Vordergrund, schwindet die breite Akzeptanz. Nochmals: Sind sich der hohe Energiestandard und ein vorzeigbares Aussehen spinnefeind?

In der Beurteilung, wie gutes Ökodesign wirkt, steckt allerdings ein grosses Missverständnis. Ein Streit über Ästhetik lässt sich kontrovers, aber meistens nur subjektiv führen. Andere Aspekte der Architektur, wie der Umgang mit Ressourcen, sind dagegen objektiv nachweisbar. In der Betrachtung ambitionierter Wohnsiedlungen und Geschäftspassagen kommen sich die unterschiedlichen Perspektiven deshalb häufig in die Quere: Während Energiefachleute die Vorzüge eines Gebäudes nach Kilowattstunden und CO2-Emissionen qualifizieren, sprechen Architekten und Städtebauer lieber über Struktur, Tektonik und Form.

Eine gemeinsame Bewunderung für das Energiesparhaus scheint an den Grenzen der eigenen Disziplin zu scheitern. Bis heute versucht man vergeblich, sich gegenseitig an­zuerkennen. Es wirkt so, als habe man sich im Dämmperimeter ver­fangen, obwohl die ersten Exoten bereits über 30 Jahre alt sind.

Die Bauphysik: solar oder polar?

Der Graben der Unvereinbarkeit rührt auch von den Anfängen her, als Erforschung und Erprobung unkonventioneller ökologischer Baukonzepte überhaupt begannen. Die Idee, ein «Haus ohne Heizung» zu realisieren, stammt aus Nordamerika; ab den 1960er-Jahren verfolgte man sie in Skandinavien und Deutschland weiter.1 Die ersten Solarhäuser der Schweiz folgten wenig später; sie sind nun fast 40 Jahre alt.

Anfang der 1980er-Jahre führten die Kantone erstmals Wärmedämmvorschriften ein und offizialisierten die zuvor definierten bauphysikalischen Normen. Die neuen Vorgaben stellten den damaligen Stand der Erkenntnisse allerdings auf den Kopf. Mit der Sonne zu bauen, anstatt sich gegen die Kälte abzuschirmen, war das Credo der nordamerikanischen Solararchitektur. Ein Sonnenhaus gewinnt die Strahlungsenergie passiv mit vollflächig verglasten Südfassaden und aktiv mit Luftkollektoren auf dem Dach oder an der Hauswand. Riesige Wassertanks im Keller sollten die Wärme saisonal speichern.

Das solare Bauen ist eine Antithese zur dicken Ver­packung. Dennoch spurten der Gesetzgeber und die Bürokratie auf den polaren Energiesparpfad ein.
Nicht zu vernachlässigen ist, dass die junge Geschichte des energieeffizienten Bauens eigentlich auf einer disruptiven Entwicklung beruht. Der Gebäudetyp «Solarhaus» wurde ausserhalb staatlicher Architekturakademien und öffentlicher Bauforschungsinstitute entworfen.

Stattdessen waren vielerorts Idealisten am Werk; darunter bis heute rund um die heutigen Hochburgen Zürich und Frankfurt aktive und erfolgreiche Architekten und Energieingenieure. Ihnen war jedoch bewusst, dass das Gebäude der Zukunft eine heikle Gratwanderung zu bewältigen hat. Teilweise gegensätzliche und sogar widersprüchliche Experimente, von solar zu polar, wurden vor rund zwei Jahrzehnten dazu präsentiert. Daraus entstand ein Wettstreit zwischen extrovertierten Sonnenfängern und introvertierten Verpackungskünstlern, der einige Architekturrepräsentanten irritierte. Die Zeitschrift Hochparterre berichtete eher skeptisch über die «solaren Urhütten».

Derweil beklagte man auf akademischer Ebene das «Splitting der Fassade»: Die Aussenwand wurde zur thermischen Zwiebel und die ungewohnte Dämmschicht sogar mächtiger als die massive Tragstruktur. Derweil schrumpfte die dünne Fassadenhaut zum Dekor. Die populäre monolithische Bauweise, vom Gründerhaus mit Sandstein bis zum modernistischen Betonbau, schien plötzlich der neuen Qualitätsgrösse «Wärmedämmperimeter» zum Opfer zu fallen.

Der Erfolg: ein Beitrag zur Klimapolitik

Aber worum geht es denn eigentlich? An sich darum, dass man in der Gebäudenutzung viel Energie einsparen kann. Damit ausreichend Warmwasser und angenehme Raumtemperaturen zur Verfügung stehen, kann der spezifische Wärmebedarf mehr als 20, knapp 5 oder nur 1 ½ Liter Heizöläquivalent pro m2 betragen. Ein Gebäude, kurz vor der Erdölkrise in den 1970er-Jahren erstellt, verbraucht viermal mehr als ein aktueller Neubau.

In weniger als zwei Generationen ist aus der Energieschleuder Haus – mit 22 Liter Heizöläquivalent – ein Spitzenreiter auf der Effizienzskala geworden. Das Gesetz erlaubt aktuell nur noch 4.8 l. Beim Minergie-­Zertifikat sind es 3.5 l; für den Passivhausstandard nochmals 2 l weniger. Würde ein Autohersteller dieselben Erfolge vorweisen wollen, dürfte ein Mittelklassewagen nurmehr 3 Liter Benzin pro 100 km verbrauchen. Neue Autos schlucken durchschnittlich dreimal so viel.

Als vor über 40 Jahren das Erdöl verknappt wurde, sorgte man sich zuerst um den freien Verkehr. 1973 waren die Autobahnen auf Anordnung des Bundes an drei Sonntagen gesperrt. Danach hat sich der Gesetzgeber stärker auf den baulichen Wärmeschutz konzentriert; dessen Fortschritte haben die motorisierte Mobilität inzwischen weit überholt. Entsprechend positiv meldet sich der Kanton Zürich zu Wort: «Der gesamte Wärmebedarf geht seit zehn Jahren stetig zurück.»2

Und auch für die nationale Treibhausbilanz ist die Energieeffizienz beim Bau eine seltene Erfolgsgeschichte. «Obwohl die beheizte Fläche zwischen 1990 und 2016 um 39 % zugenommen hat, sanken die Emissionen aus Heizung und Warmwasseraufbereitung in Wohn- und Gewerbegebäuden um etwa ein Viertel», lobt das Bundesamt für Umwelt den Gebäudesektor im aktuellen Klimabericht. Diese Bilanz bietet sowohl dem Wachstum der Energiebezugsfläche als auch der Marktdynamik überraschenderweise die Stirn. Die Preise für fossile Brennstoffe haben sich in den letzten 20 Jahren nur geringfügig erhöht, weit weniger als prognostiziert.

Die Transmission: wie dicht und kompakt?

Den grossen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zum Trotz: Das Haus ohne Heizung erweist sich als Illusion. Während die Pioniersolarhäuser in Nordamerika selbst im Winter reichlich besonnt werden, ist das Klima Mitteleuropas dafür an kalten Tagen zu düster. So wurde an Testobjekten in Skandinavien und Deutschland erstmals ein Mittelweg zwischen Gewinnmaximierung und Verlustminimierung erprobt. Die Schnittmenge aus «solar» und «polar» war das Resultat dieser thermischen Mengenlehre. Die Fensterfront nach Süden blieb offen, wurde aber durch eine Hülle aus drei gut gedämmten, massiven Fassaden ergänzt.

Diesen Ausgleich verbinden das Minergie-Konzept und andere Energiesparhäuser bis heute: möglichst viel Sonneneinstrahlung für den passiven Energie­gewinn und eine gute Dämmung gegen unnötige Wärmeabflüsse. Mit zusätzlichen geometrischen Interventionen schraubt man den Energiebedarf weiter zurück: Der Würfel ist nach der Kugel die zweitbeste thermodynamische Form, um einen Baukörper mit so wenig Energie wie möglich zu beheizen.

Das kompakte Gebäude, mit minimaler Hüllfläche im Verhältnis zum Volumen, ist das architektonische Pendant. In den meisten Lehrbüchern zum energieeffizienten Bauen wird beschrieben, dass das Haus, das ohne Kamin auskommen soll, auch auf die bisherige Vielfalt an Konstruktionsformen verzichten muss. Denn erst kompakte, gut gedämmte Hüllen bieten Gewähr, dass erneuerbare Energieträger mit geringer Leistungskraft die fossilen Brennstoffe verdrängen können. Das kistenförmige Gebäude ist so zum Bild für die gestalterische Auszehrung durch das klimafreundliche Bauen geworden.

Die Assemblage: Die Architektur lernt

Der konstruktive Gewinner des energieeffizienten Bauens ist das additive Bauen, namentlich Wärmedämmverbundsysteme oder ähnliche Kompaktfassaden­varianten. Begradigte Fassaden und ultraschlanke ­Hartschaumdämmschichten sind darum bei energie­effizienten Häusern sehr häufig anzutreffen – aber ebenso oft bei kostenreduzierten, rationellen Bauten.

Manches erinnert allerdings an die Wegwerfmentalität: Hochleistungsdämmprodukte und andere Bauteile aus dem Hightechlabor enthalten kritische Substanzen; ihre energetische Wirkung interessiert mehr als umfassende ökologische Betrachtungen. Doch viele erstaunliche Produkte der Energie- und Materialforschung sind weder länger erprobt, noch weiss man über die Umwelteinflüsse im Lebenszyklus Bescheid. Und werden heute keine neuen Recyclingmethoden erforscht, hat man gegen die Abfallberge von morgen nicht vorgesorgt.

Am erfolgversprechendsten und nachhaltigsten funktionieren konstruktive Ansätze, die den Wärmedämmperimeter im Sandwichprinzip eingrenzen und dazu traditionelle Baustoffe und reversible Konstruktionsformen verwenden. Die Architektur hat einiges dazugelernt; umfassend und auch ästhetisch nachhaltig stellt man sich inzwischen der Wärmeschutzherausforderung. Sichtbar wird dieser Wandel überall dort, wo der Lebenszyklus nicht als Dekoration verstanden, sondern das additive Core-and-Shell-Prinzip durch eine versierte Assemblage von Materialien und Bauteilen abgelöst wird.

Charakteristisch für die jüngste Generation von energiesparenden Wohn- und Geschäftshäusern ist daher eine pragmatische Mixtur mit wiederentdecktem Gestaltungsanspruch: die Tragstruktur ein Skelettbau, der passive Wärme speichert, und die Hülle eine selbsttragende Holzrahmenkonstruktion, deren Ausfachung neben der Dämmung auch zur Profilierung der Aussenfassaden benutzt werden kann.

Die Reliefs tauchen ebenso wieder auf wie die Ecken und Kanten früherer Bauperioden. Allerdings gelingen «wärmebrückenfreie» Bauteilübergänge nur dank thermischen Speziallösungen. Auf Balkone will man nicht mehr verzichten; diese sind nun Teil eines selbsttragenden Anbaus und vom Hauptgebäude statisch und thermisch entkoppelt.

Dennoch setzt sich das Dilemma zwischen offener und geschlossener Bauweise ungeachtet der besseren Materialien fort. Sinnbildlich dafür steht das Fenster, das wohl am stärksten vom technischen Fortschritt profitiert: Die Fenster der ersten Minergie-Häuser haben mit den heutigen Produkten wenig gemein. Damals waren sie zweifach verglast; heute ist Dreifachverglasung mit Neongasfüllung der übliche Minimalstandard. Der Wärmedurchlass dieser transparenten Bauteile hat sich in den letzten zwanzig Jahren halbiert.

Zwar ist dieser Qualitätssprung auch ein Gewinn für die architektonische Freiheit beim Entwerfen energieeffizienter Häuser; zudem erlauben grössere Fensterflächen ein Plus beim Tageslichtkomfort. Aber dadurch wird ein Teil des energetischen Gewinns mit dem Wärmeschutzfenster wieder zunichtegemacht; in ähnlichen Fällen spricht man vom Reboundeffekt: Bessere Technologien sind zwar effizienter, verführen aber meistens zur Ausweitung des absoluten Nutzungsumfangs.

Und ein zu unbedarfter Zuwachs des Glasanteils an einer Gebäudefassade birgt weitere, energetisch schwer abschätzbare Unsicherheiten: Wenn das Klima, wie in den nächsten Jahrzehnten erwartet, wärmer wird, bieten die heute derart transparent konzipierten Gebäudehüllen, trotz beeindruckend niedriger U-Werte, dereinst wenig Schutz vor sommerlicher Überhitzung.

Die Komfortfrage: zu viel oder zu wenig?

Die Lernkurve des energieeffizienten Bauens ist weit vorangekommen; doch der einfach gestrickte Wärmeschutzpullover erfüllt die Anforderungen längst nicht mehr: Das Gebäude ist nicht nur sparsamer, sondern auch zu einer leistungsfähigen, aber fragilen Klimakapsel geworden. Jedes Wohn- oder Geschäftshaus hat den wechselhaften äusseren Witterungsbedingungen ein stabiles internes Behaglichkeitsniveau gegenüberzustellen.

Die staatliche Regulierung des Wärmedämmperimeters hat nun ein komplexes Deklarationssystem, bestehend aus vielfältigen energetischen Wechselwirkungen hervorgebracht. Im verbindlichen Energienachweis spielen geografische Ausrichtung, Beschattung, Sonnenschutz, Fassadenabwicklung, Dämmung der Aussenwand, Speichermasse der Gebäudestruktur, Fensteranteil oder U- respektive g-Werte von Fensterglas eine wichtige Rolle. Und auch die Nutzungsphase muss in abstrahierter Form, etwa im SIA-Normenwerk, abgebildet werden können.3

Trotzdem darf nicht vergessen gehen: Man kann weder alles im Voraus definieren, noch lassen sich sämtliche Probleme, Unsicher­heiten oder Risiken im Hochbau den verschärften Energiestandards in die Schuhe schieben. Auch die vielen Revisionsrunden beim Brand- und Lärmschutz stellen jedes Mal neue Herausforderungen dar, die untereinander sogar neue Zielkonflikte verursachen können.

Umso dringender ist zu überlegen, welche Leistungen ein standortgebundenes Gebäude überhaupt erbringen kann. Da die früheren Minergie-Sonderregeln inzwischen gesetzlicher Minimalstandard sind, wäre eine interne Koordination der vielen Einzelanforderungen zwingend angebracht. Die Zeit dafür drängt: Bis 2020 wollen die Kantone ihre eigenen Energievorschriften den aktuellen Minergie-Werten anpassen, zumindest was den Wärmeschutz betrifft.

Dessen ungeachtet sind weitere Pendenzen zu erledigen, will man die Gesamtenergieeffizienz eines Gebäudes verbessern. Seinerseits hat der Trägerverein letztes Jahr den Kurs bereits korrigiert. Der neue Fokus richtet sich auf eine (auch selbstverschuldete) Hypothek: Während der Konsum von Wärme sinkt, steigt derjenige von elektrischer Energie. Denn auf eine Heizung oder einen Kamin möchte man im Prinzip verzichten; aber umso wichtiger wird der Stromanschluss.

Mechanisch belüftet ist zum Beispiel jedes Minergie-Haus; auch der Anteil der Wärmepumpen ist in zertifizierten Objekten besonders hoch. Der erneuerte Minergie-Standard bezieht sich deshalb nicht länger auf den Konsum von Wärmeenergie für Heizung und Warmwasser, sondern zählt nun auch den Elektrizitätsverbrauch der Haushalte mit. Ungelöst sind jedoch auch hier zentrale Fragen zum Verhalten und zu den Ansprüchen der Benutzer respektive der Transfer solcher Informationen in normierte Planungsdaten.

Ein Minergie-Haus steht für die Option, ein ausgeglichenes Temperaturniveau im Sommer und Winter sowie einen stets kontrollierten Luftwechsel mit limitiertem Betriebsenergieaufwand anbieten zu können. Allerdings weiss man inzwischen, dass sich dasselbe Behaglichkeitsniveau auf unterschiedliche Weise, mit hohem technischem Aufwand oder mit ressourcenschonenden Low-Tech-Konzepten erreichen lässt.

Wo liegt nun aber der goldene Mittelweg, der die gegensätzlichen Strategien verbinden kann? Abermals sieht sich die Bauforschung mit Grundsatzfragen konfrontiert. Lau­teten sie vor 30 Jahren: Hat es zu viel oder zu wenig Energie, müssen wir sie einfangen oder einsperren?, so heisst es nun: Funktioniert es besser mit mehr oder mit weniger Komfort? Der Energieeffizienztest ist für die Architektur also noch nicht ausgestanden.

Die Prüf­kriterien sind aber nicht mehr die Bauphysik, der Dämmperimeter oder die Gebäudehülle, sondern der Zielkonflikt zwischen Ressourcenaufwand und Nutzungskomfort. Das Problem mit der Ökoverpackung reduziert sich inzwischen auf die Gestaltungsfrage: Gefällt sie, oder befindet man sie als unpassend? Aber der Inhalt, der zur nachhaltigen Nutzung passt, ist nun zu definieren.

Anmerkungen

  1. Eine Geschichte der Niedrigenergiehäuser bis zum Passivhaus. Institut Wohnen und Umwelt 1996.
  2. Energieplanungsbericht 2017. Regierungsrat Kanton Zürich.
  3. Grundlagen zur Wirkungsabschätzung der Energiepolitik der Kantone im Gebäudebereich. CEPE ETH Zürich 2008.

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