Die Klüf­te in der Bau­for­schung wei­ten sich

Brenet-Status-Seminar 2018

Wohin geht die Reise in der Energie- und Gebäudeforschung? Eigentlich gilt es die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des Schweizer Gebäudeparks zu verbessern. Fraglich ist aber, ob diese Aufgabe mit der Tendenz, vermehrt auf Simulationen zu vertrauen, zu bewältigen ist.

Publikationsdatum
03-10-2018
Revision
03-10-2018

Ist alles für die Katz? Harald Welzer, Soziologe und Autor mehrerer Bücher über die nachhaltige Zukunft, zweifelt die laufenden Klimaschutzbemühungen an: «Unserer Gesellschaft gelingt es nicht, das verfügbare Know-how in ein wirkungsvolles Handeln umzusetzen.» Gründe dafür sind: Die Klima- und Energiepolitik spielt im gegenwärtigen ökonomischen System keine Rolle; und im praktischen Alltag verhindert eine lieb gewonnene Routine, dass neue Erkenntnisse zu Verhaltensänderungen führen können. «Von einer Wissensgesellschaft sind wir weit entfernt; scheinbar Bewährtes erhält trotz gegenteiliger Anzeichen weiterhin den Vorzug», zog Welzer ernüchternde Bilanz in seinem Inputreferat am diesjährigen Brenet-Status-Seminar.

Zum inzwischen 20. Mal waren Gebäude- und Energieforscher eingeladen, über den Stand laufender oder abgeschlossener Arbeiten zu informieren. Seit den 1970er-Jahren organisiert das Building and Renewable Energies Network of Technology (Brenet) diesen Anlass im Zweijahresrhythmus. Der Trägerschaft gehören inzwischen Bundesämter, Hochschulen und Fachverbände an.

Wie verlässlich sind junge Erkenntnisse?

Das offizielle Thema lautete «Resilienz – Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des Schweizer Gebäudeparks». Das wäre ein hochbrisantes Diskussionsfeld, weil es die Grenzen der Planbarkeit und den Umgang mit Unsicherheiten thematisiert. Einige Fachleute verstehen «Resilienz» sogar als Widerspruch zur «Effizienz», wobei eben dieser letzte Begriff ein zentraler Aufhänger für die aktuelle Gebäudeforschung ist. Allerdings sprach man am zweitägigen Seminar nicht darüber, sondern primär über den Graben zwischen Wissen und Handeln. Nicht nur Harald Welzers Einführung, auch einige nachfolgenden Fachvorträge veranschaulichten, wo überall der Spagat zwischen neuen Erkenntnissen und überlieferten Traditionen zu leisten ist.

Gefordert ist insbesondere der Planungsprozess, alte Gewissheiten angesichts absehbarer oder bereits laufender Umweltveränderungen über Bord zu werfen. Je klimafreundlicher und ausgefeilter ein Gebäudekonzept sein soll, desto eher erhalten junge Erkenntnisse gegenüber bewährten Ansichten den Vorzug. Frei nach Welzer heisst das: Man weiss zwar ungefähr, was der Klimawandel für den Gebäudepark bedeuten wird; trotzdem werden die Häuser für morgen immer noch aus vergangenen Erfahrungswerten entwickelt.

In Praxis und Forschung mehren sich jedoch die Hinweise, dass bisherige Standards nicht nur beim sommerlichen Wärmeschutz, bei den passiven Solareinträgen oder der Heizgradkurve zunehmend an Verlässlichkeit verlieren. Bezeichnend dafür ist, wie häufig inzwischen in Fachkreisen über die Gültigkeit und die Qualität aktueller Normen, Planungshilfen und anderer branchenüblicher Annahmen debattiert wird.

Ist jede Abweichung ein statistischer Fehler?

Das Status-Seminar thematisierte aber auch, dass theoretische Ambitionen zur Steigerung der Gebäudeeffizienz nicht ohne Weiteres in der Praxis zu erfüllen sind. Viele Fachplanungen scheinen vom Performance Gap betroffen; für die Forschergemeinde ist nun daraus ein beliebtes Forschungsfeld geworden: Von der Energietechnik über den Sonnenschutz bis zur thermischen Gebäudesubstanz bestätigt sich der Eindruck, dass real existierende Neubauten nicht immer den minutiös geplanten Erwartungen entsprechen. Zwar lassen sich fast für jeden Einzelfall Abweichungen zwischen Planungswert und effektivem Betriebszustand nachweisen. Doch daraus lässt sich kein wissenschaftlicher Beweis erbringen, wo und warum sich solche Fehler typischerweise einschleichen können. Nicht alle erfassten Unzulänglichkeiten sind statistisch relevant.

Die Autoren der BFE-Studie «Park-Gap – Performance Gap Gebäude», die am Status-Seminar erstmals vorgestellt wurde, sprechen sich deshalb für ein systematisches Monitoringkonzept aus. Nur so biete sich die Gelegenheit, die Performance-Lücke für den ganzen Gebäudepark der Schweiz einheitlich und repräsentativ zu erfassen.

Mängel in Planungsgrundlagen

Allerdings lassen weitere präsentierte Fallbeispiele durchaus vermuten, dass die Energieplanung qualitativ verbesserungswürdig ist. So haben Wissenschafter der Universität Genf die Performance von 15'000 Hochbauten in der Westschweiz überprüft. Die Erkenntnisse ihrer Energieverbrauchsanalyse «Gapxplore»: «Effiziente Gebäude verbrauchen meistens mehr als angenommen; bei ineffizienten Objekten verhält es sich genau umgekehrt.» Und auch die Hochschule Rapperswil stiess in der «ImmoGap»-Studie auf einen negativen Befund: «Fast die Hälfte aller dokumentierten Energiekennwerte halten einer Überprüfung nicht stand.» Schuld daran seien ungenügende Dokumentationen und fehlerhafte Betriebsprognosen. Deswegen sind Heiz- oder Wassererwärmungssysteme zu oft schlecht eingestellt.

Dieser Hinweis wurde am Status-Seminar ebenfalls wiederholt: Nicht alle Fehler lassen sich auf falsche Annahmen oder Systemeinstellungen abschieben. Verbesserungswürdig sind auch die Verantwortlichkeiten in einem Planungsprozess: Wer trifft entsprechende Nutzungsentscheide respektive setzt sie vor Ort richtig um?

Ein digitaler Graben in der Gebäudeforschung

In zahlreichen Seminarpräsentationen tauchte aber nicht nur der Performance Gap auf; immer deutlicher zeichnet sich auch ein «digital gap» in der Gebäudeforschung ab, ohne explizit benannt zu werden. Dabei fällt auf, wie selten reale Häuser oder technische Systeme als Studienobjekte verwendet werden. An sich wäre die Standardisierung neuartiger Energie- und Techniksysteme ein wichtiges Forschungsfeld. Stattdessen nimmt das Konstruieren und Modellieren virtueller Gebäudewelten überhand. Mithilfe von Simulationen und Algorithmen werden jeweils Prognosen über Betriebs- und Komfortzustände respektive präzise Energiebedarfswerte erzeugt. Oft führen die detaillierten Vorhersagen aber zum Trugschluss, dass der Alltag genauso präzise funktionieren muss.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der neuartigen Fülle solcher Daten und Informationen, die es nun zu beherrschen gilt. Und von wissenschaftlicher Relevanz ist ebenso das Verständnis, wie mit Ungenauigkeiten und Unsicherheiten umzugehen ist. Das am Status-Seminar kaum behandelte Thema Resilienz meint genau dies: Wie robust und resilient sind die Grundlagen, mit denen die Planungsdisziplinen im Gebäude- und Energiebereich heute arbeiten müssen? Die Forschung konnte am Status-Seminar darauf noch keine Antwort geben.


Zusammenarbeit Forschung und Industrie

Um wissenschaftliche Erkenntnisse oder neu entwickelte Technologien verfügbar zu machen, ist eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit zwischen Forschungs- und Werkplatz anzustreben. An einem Podiumsgespräch am Status-Seminar zeigte sich, dass dies nicht immer einwandfrei geschieht. Unter anderem leidet die Forschung an Fachhochschulen an divergierenden Ansprüchen. Während in der Grundlagenforschung ein Verteilkampf um öffentliche Fördergelder herrsche, funktioniere die angewandte Forschung akquisitionsgetrieben. Dabei bemängeln Hochschulvertreter, dass mögliche Industriepartner keine ausreichende Kontinuität bieten könnten.

Häufig leisten Forschungsinstitute aber auch Dienstleistungen wie die Prüfung von Bauteilen oder die Begleitung von Pilot- und Demonstrationsprojekten. Eine Zunahme dieser Austausch- und Zusammenarbeitsformen ist durchaus erwünscht. Festgestellt wurde aber auch, dass die Baubranche, mit Ausnahme einzelner innovativer Firmen, keine systematische Forschungs- und Entwicklungsarbeit betreibt.

Publiziert: 03.10.2018
Überarbeitet: 03.10.2018
Themen: Gebäudetechnik Forschung

 

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