«Den Stier bei den Hör­nern Pa­cken»

Christine Haag studierte an der ETH Zürich Bauingenieurwesen, doktorierte und schloss zusätzlich das betriebswirtschaftliche Studium an der HSG ab. Diese Ausbildungen seien das richtige Rüstzeug, sagt sie, um sich für ökologische Grundsätze einzusetzen.

Publikationsdatum
11-10-2012
Revision
01-09-2015

TEC21: Frau Haag, Sie sind verantwortlich für Starkstromleitungen der SBB und führen als Leiterin des Sektors Anlagenmanagement Übertragungsleitungen zehn meist männliche und zum Teil deutlich ältere Kollegen. Wie kam es dazu?
Christine
Haag: Ein starker Treiber meines ganzen Ausbildungswegs waren das Umweltbewusstsein und die Wirtschaftlichkeit. Umweltprobleme waren in meiner Gymnasialzeit in Luxemburg vor allem im Sprachunterricht häufig ein Thema. So wurde mir die Sensibilität für den Umweltschutz mitgegeben. Sie prägte meine Entscheidung, Bauingenieurwesen an der ETH in Zürich zu studieren. Das Bauen ist eine notwendige Tätigkeit, die sich stark auf die Umwelt auswirkt. Hier wollte ich mitsteuern – ich wollte lernen, umweltbewusst zu bauen. Mein Studium ist daher durch eine ökologische Ausrichtung geprägt. Ich belegte Vertiefungsrichtungen wie Deponiebau und schrieb eine Diplom- sowie eine Doktorarbeit zu Ökobilanzen von bauchemischen Betonschutzmassnahmen. 

Während Ihrer Doktorarbeit schlossen Sie zusätzlich die betriebswirtschaftliche Ausbildung an der Hochschule in St. Gallen ab.
C. H.:
Ja. Als ich mein Bauingenieurstudium 1997 beendete, herrschte Konjunkturflaute. Viele meiner Studienkollegen und -kolleginnen waren auf Stellensuche. Es war für mich schwierig zu verstehen, was in dieser Zeit mit der Wirtschaft vor sich ging. Wir hatten ein Studium an einer renommierten Schule abgeschlossen und fanden keine Arbeit. Was war mit der Konjunktur los? Wie entsteht und vergeht Arbeitslosigkeit? Mit welchen Zyklen haben wir zu rechnen? Ich wollte die Situation verstehen und blieb für Studienaufträge und schliesslich für ein Doktorat an der ETH. Parallel dazu schloss ich eine betriebswirtschaftliche Ausbildung an der HSG ab. 

Inwiefern spielte der Umweltschutz eine Rolle bei dieser Entscheidung?
C. H.: 
Wahren Umweltschutz kann man nur betreiben, wenn man die Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit und finanziellen Einsparungen erkennt und sucht. Dies lernte ich an der HSG. Ich belegte darum ein Vertiefungsfach mit dem Fokus auf Ökologie und Ökonomie – das leider heute in dieser Form nicht mehr existiert. Auch meine Dissertation habe ich auf dem Spannungsfeld Ökologie, Ökonomie, Technik und Soziales aufgebaut. Das an der HSG gelernte Wissen konnte ich direkt in die Doktorarbeit integrieren, zum Beispiel mit Lebenszykluskosten-Analysen. Ich habe diese Überlegungen eingebaut mit dem Argument, dass sich Umweltschutz aus purem Altruismus nicht verkaufen lässt. Er muss sich rechnen – auf jeden Fall in der heutigen Welt.

Mit diesem eindrücklichen Ausbildungspaket waren Sie gründlich vorbereitet für die Arbeit in der Praxis. Welchen Schritt haben Sie nach der akademischen Ausbildung gemacht?
C. H.:
 Ich ging 2001 in die nächste konjunkturelle Flaute – nach Berlin, wo mein heutiger Mann auf mich wartete. Ich kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Der Potsdamer Platz war bereits in der Ausführung und Planungskapazität im Überfluss vorhanden. Die Deutsche Bahn aber baute ihre ‹Verkehrsprojekte Deutsche Einheit› und rüstete die Eisenbahnstrecken der ehemaligen DDR nach. Ich meldete mich auf eine Ausschreibung, da die Bahn mich begeistert – die Faszination war während meines Aufenthalts in der Schweiz gewachsen. Ich war beeindruckt, wie präsent und ausgereift dieses ökologische Verkehrsmittel hier war. In Luxemburg war ich mit 16 Jahren erstmals in einen Zug gestiegen. 

Haben Sie die Stelle bei der Deutschen Bahn erhalten?
C. H.:
Ich wurde Bauherrenvertreterin für das Grossprojekt der Streckenertüchtigung Hamburg–Berlin. Ich lernte in dieser Position viel im Managementbereich – mit den Vor- und Nachteilen eines riesigen, hierarchisch aufgebauten Betriebes –, konnte Strategien entwickeln und blickte in viele Planungs- und Ausführungsprozesse. Ich bereitete die Entscheidungsgrundlagen auf, hatte jedoch keine finanziellen Kompetenzen. Die Entscheidungen fällten die Vorgesetzten.  

Sie haben sich bei der Deutschen Bahn die Sporen abverdient und kamen danach zurück in die Schweiz?
C. H.:
 Nach vier Jahren – mit dem Abschluss des Projektes – kam ich mit meinem Mann und meinem in Berlin geborenen Sohn wieder in die Schweiz. Ich bewarb mich bei den SBB für eine Aufgabenstellung, die ich bei der Deutschen Bahn bereits kennengelernt hatte – im Anlagenmanagement der SBB Energie. Faszinierend fand ich, dass hier zwei grosse Herausforderungen unserer Gesellschaft aufeinandertreffen: die Mobilität und die Energieversorgung. Diese Themen haben eine hohe ökologische Relevanz. Natürlich hatte ich Respekt vor dem fehlenden Grundwissen im Bereich Elektrizität. Doch mit meinem Ingenieurstudium, der betriebswirtschaftlichen Ausbildung und der Erfahrung als Bauherrenvertreterin bekam ich die Stelle und wurde 2005 Anlagenmanagerin für Übertragungsleitungen. Als ein Jahr später der Sektor Anlagenmanagement Bahnstrom mit den Bereichen Unterwerke und Übertragungsleitungen kreiert wurde, durfte ich mit 32 Jahren sogar dessen Führung übernehmen. 2009 haben wir das Anlagenmanagement umorganisiert und homogenere Sektoren gebildet – einen Sektor Übertragungsleitungen und einen Sektor Unterwerke. Dies vereinfachte die Führung deutlich. Ich bin nun für den Sektor Übertragungsleitungen zuständig. 

Anlagenmanagement kennt man aus dem Bankenwesen. Worum handelt es sich bei den SBB?
C. H.:
 Ähnlich wie im Bankenwesen wird Geld angelegt, aber in Bauten für die Kernleistung des Unternehmens. Wir nehmen die Rolle des Eigentümers wahr und bewirtschaften unsere Anlagen über die gesamte Lebensdauer. Wir müssen die geforderte Verfügbarkeit sicherstellen und dabei die Lebenszykluskosten minimieren. Es sind also Ingenieure mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen gefordert.  

Inwiefern sind Sie mit klassischen Aufgaben aus dem Bauingenieurwesen konfrontiert?
C. H.:
 Zunächst einmal der grösste Unterschied: Hochspannungsmasten, wie sie heute erstellt werden, wären nach SIA-Normen gar nicht zulässig. Sie werden vielmehr mit separaten, gesetzlich festgehaltenen Dimensionierungsgrundlagen berechnet – durch den Hersteller oder durch spezialisierte Ingenieurbüros. Der Projektablauf entspricht ansonsten dem typischen Bauablauf, mit Studie, Vorprojekt, Bau- bzw. Detailprojekt und Ausführungsprojekt. Unsere Aufgabe konzentriert sich einerseits auf ökonomische Grössen wie Kosten-Nutzen-Gegenüberstellungen von Varianten und die Festlegung von Standards, die die Lebenszykluskosten für den Bau und die Instandsetzung minimieren. Andererseits ermitteln wir möglichst schonende Linienführungen und führen planrechtliche Verfahren durch. Es sind raumplanerische Aufgaben und Verhandlungen mit Anspruchsgruppen wie Elektrizitätswerken bei Beteiligungen, Bundesämtern, Behörden, Kantonen, Gemeinden, Privaten und Umweltverbänden, die wir meistern müssen.

Fehlte Ihnen in dieser Führungsposition bei den SBB das Wissen im Bereich Elektrizität tatsächlich?
C. H.:
 Gewisse Kenntnisse musste ich mir aneignen, aber im Team sind elektrisches Grundwissen und Erfahrungen mit Hochspannungsanlagen vorhanden. Zu meinen Mitarbeitern zählen Bau-, Elektro- und Maschinenbauingenieure. Insbesondere für das Anlagenmanagement Unterwerke sind fundierte elektrische Kenntnisse zwingend. Im Bereich Übertragungsleitungen sind wiederum mehrheitlich Bauingenieure angestellt.  

Wie konnten Sie sich in diesem heterogenen Team behaupten?
C. H.:
 Die Führung eines solchen Teams ist anspruchsvoll. Mein Glück war, dass ich mich zu Beginn meiner Anstellung in einer laufenden Mängelrüge zu Rissen in einem Übertragungsmasten einbringen und profilieren konnte. Ich regte Verbesserungsmassnahmen an und konnte mit meinem Wissen im Bereich Werkstoffe direkt den Herstellungsprozess beeinflussen. 

Lese ich Ihr CV, male ich mir mit Ihren Titeln Dr. sc. techn., dipl. Ing. und lic. oec. ein Bild, das so gar nicht Ihrer Person entspricht. Man vermutet nicht im Entferntesten eine radikale ökologische Einstellung.
C. H.:
 Das mag sein. Zu Hause haben wir kein Auto und heizen selbst im kältesten Winter nur knapp über 17 °C – dafür tragen wir Wollpullis. Das ist meine private Antwort auf die grossen ökologischen Themen Energie und Mobilität. Diese Themen brauchen keine einseitigen Blockaden, sondern bezüglich Umweltschutz engagierte Mitwirkung. Man muss auch mal den Stier bei den Hörnern packen, um die Auswirkungen notwendiger Übel zu minimieren. Dafür braucht es fundiertes Wissen über die Materie, um entsprechend argumentieren zu können. Mit meinen Ausbildungen habe ich das notwendige Rüstzeug dazu. Es klingt nur auf den ersten Blick paradox, dass ich mich als umweltbewusste Person bezeichne und trotzdem Projekte für Hochspannungsleitungen vertrete. Die Antwort auf diese Frage gab ich bereits meinem späteren Vorgesetzten während des Vorstellungsgesprächs. Er fragte mich: ‹Ökologie ist Ihnen wichtig, aber was sagen Sie, wenn für die Realisierung einer Übertragungsleitung wegen des Landschaftsschutzes erdverlegte Kabel gefordert werden? Das Bahnstromnetz reagiert auf zunehmende kritische Schwingungen und Netzinstabilitäten – verursacht durch ebensolche Kabel. Ist es mit Ihrer ökologischen Einstellung vereinbar, ein Freileitungsprojekt zu vertreten › Und ich antwortete: ‹Hinter diesem Hochspannungsprojekt steht das faszinierende und umweltschonende Produkt Bahn – und mein Engagement gilt der nachhaltigen Bahnstromversorgung als grünes Licht für die Bahnen. Selbst wenn das heisst, ein Freileitungsprojekt mit möglichst optimierter Linienführung zu vertreten.›

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