Das idea­li­sier­te Stadt­bild steht in der Kri­tik

ETH Forum Wohnungsbau 2015

Das ETH Wohnforum lud Philosophen, Soziologinnen und Architekten zur interdisziplinären Analyse der gegenwärtigen Stadtentwicklung. Einig waren sich die Fachleute in ihrer Kritik des «idealisierten Stadtbilds». Zu erarbeiten wäre nun ein Konsens, welche hochwertigen Strukturen im Siedlungsraum anzustreben sind.

Publikationsdatum
28-04-2015
Revision
01-09-2015

Ludwig Wittgenstein war Philosoph und Architekt und verband beide Tätigkeiten in der Auseinandersetzung mit «sich selbst». Der deutsche Buchautor Richard David Precht erinnerte zwar an den berühmten Vorgänger, doch selbst wollte er «Brückenbauer zwischen den Disziplinen» sein. Im Inputreferat am diesjährigen ETH Wohnforum skizzierte Precht allerdings eine Zukunftsvision mit revolutionärem Gedankengut: «Wir erleben eine irreversible Verschiebung der existenziellen Referenzpunkte («shifting baselines»): Der 3-D-Drucker, das selbstfahrende Auto und die Digitalisierung wälzen den Alltag ähnlich massiv um, wie die industrielle Revolution vor gut hundert Jahren.» Die Gesellschaft wird klassenlos und der Konsument emanzipiert sich, weil jeder alles selbst produzieren kann. Für die Stadt heisst dies: Metropolen werden zu homogenen Hotspots einer individualisierten Kreativgesellschaft. Das Auto verschwindet und der frei gewordene Platz wird begrünt. «Bullerbü in der Innenstadt», so das Fazit in Prechts postmoderner Atomisierungsprognose.

«Ökonomisch erfolgreiches Chaos»

Weniger idyllische, aber reale urbane Lebenswelten beschäftigen Suzanne Hall, Forscherin an der London School of Economics. Als ausgebildete Architektin und Soziologin untersucht sie räumliche, ökonomische und kulturelle Wechselwirkungen in einem gewöhnlichen Strassenzug («ordinary streets»): «Vor Ort präsent sind ein Bewohnergemisch aus über 20 Ländern und ein Mikrokosmos aus Kleinstläden. Die Immigration ist der ständige Motor für die Stadtentwicklung; verbindende, kollektive Elemente des «vermeintlich chaotischen, aber ökonomisch erfolgreichen» Strassenlebens sind die hohe Diversität und eine pragmatische Aneignungsstrategie der Zugezogenen. «Eine geordnete Planung durch die Behörde ist kaum möglich, weil zu träge», fasst Hall die Eigendynamik und das Organisationsprinzip auf Londons Strassen zusammen.

Die mangelhafte Stadtentwicklung aktiv zu verbessern, ist derweil das Anliegen von Eberhard Tröger, Architekturdozent an der ZHAW. Auffällig seien die «Klagen über Dichtestress» und die «formale Ratlosigkeit städtischer Wohngegenden». Trotzdem schwanke die Wahrnehmung der Siedlungsqualität zwischen lokaler Durchhalte-Mentalität und ideologisch romantisiertem «Architektur-Mischmasch». «Berechtigte gute Laune in der dichten Stadt» ist aber möglich, wenn öffentliche Räume aufgewertet und deren Nutzung besser strukturiert würden, so Tröger. Einen ähnlichen Ansatz, «die inszenierte, idealisierte Urbanität und den sozialen Verdrängungskampf in Wohnquartieren» zu überwinden, propagierte Robert Kaltenbrunner vom deutschen Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Am ETH-Wohnforum forderte er, kleinteilige und integrative Strukturen im Städtebau und in der Stadtentwicklung zu schaffen.

Dialog und Akzeptanz

Urbane Verdichtungsstrategien, die sowohl höhere Lebensqualität als auch ökologische und soziale Nachhaltigkeit ausstrahlen, strebt das Projekt ANANAS (Angebotsstrategie Nachhaltig Nachverdichteter Städte) an, das von ETH-Wohnforumsleiterin Margrit Hugentobler vorgestellt wurde. Ausgehend von Neubau-Siedlungen in Basel und Zürich wurde ein Verdichtungs-Handbuch für Investoren, Projektentwickler und Städteplaner verfasst, das unter anderem die Aspekte Energie, Mobilität, Konsum, Arbeits- und Wohnwelten enthält. Gefragt seien neben substanziellen Umsetzungsmassnahmen aber ein gegenseitiger Dialog und der Aufbau von öffentlicher Akzeptanz für dichte Stadträume, so Hugentobler.

Auf Ebene Quartier erkennt Vittorio Magnago Lampugnani ebenso grossen Handlungsbedarf: Weil wichtige Orte wie Dorfplätze verschwinden, sind neue städtische und ländliche Elemente mit hohem Umgebungswert zu definieren. Wie bereits von einigen Vorrednern betont, muss der öffentliche Raum höhere Bedeutung erhalten. Freiräume dürfen bisweilen an erster Stelle, vor den Bauten, geplant werden. «Aussenräume kompensieren die bauliche Dichte», folgert Magnago Lampugnani.

In der abschliessenden Diskussionsrunde meldeten sich Vertreter von Bundesämtern, Stadtbauämtern und Immobilienentwicklern zu Wort. Ihre Statements verdeutlichten den Gesamteindruck aus den Forums-Referaten: Die städtebauliche Kritik wird oft pauschal formuliert, ihre Herleitung ist fachlich jedoch verkürzt. Zwar werden Visionen, eine bessere Planung der Grünräume oder die Beteiligung der Bewohner verlangt. Bräuchte es aber nicht einen Konsens, wie eine gelungene Stadtverdichtung auszusehen hat oder zu entwerfen ist, oder wie sich Exponenten verschiedener Fachrichtungen und Interessensgruppen untereinander besser zu verständigen haben 

Weitere Infos: www.wohnforum.arch.ethz.ch

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