Ca­sa­blan­ca, Chan­di­garh, Neu-De­lhi

Was hat Schweizer Architektur mit Entkolonialisierung zu tun? Zwei Bücher zeigen, wie vielfältig die architektonischen Verstrickungen unseres Landes mit dem Ausland waren.

Publikationsdatum
17-11-2014
Revision
18-10-2015

Viele Kolonialbauten der Moderne stammen von europäischen Architekten. Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus europäischen Kolonialmächten haben Schweizer Fachleute jedoch relativ selten im Süden gebaut. Dennoch gab es vielfältige Beziehungen, die zwei soeben erschienene Bücher dokumentieren. Das erste ist dem Schweizer Botschaftsgebäude in Neu-Delhi gewidmet, dessen rund zehn Jahre dauernde Renovation durch den Zürcher Architekten Stefan Zwicky kürzlich abgeschlossen wurde. Das zweite beleuchtet die Geschichte von Casa­blanca und Chandigarh. 

Schweizer in Delhi

Indiens Staatsbildung hat einen Bezug zur Schweiz: Seine Entstehung war der politische Verdienst von Earl Mountbatten, dem Vizekönig von Indien, und seiner Frau Edwina Ashley. Sie hatte einen Teil ihrer Kindheit in der von ihrem Grossvater erbauten Villa Casell im Wallis verbracht und stand der Schweiz nah. Es ist somit nicht verwunderlich, dass diese den indischen Staat als erste europäische Nation am Tag seiner Unabhängigkeit am 15. August 1947 anerkannte. 

Dennoch dauerte es zehn Jahre bis zum Beschluss, in Neu-Delhi ein Botschaftsgebäude zu bauen. Die Namen seiner Ersteller liest sich wie das architektonische Who’s who jener Zeit: Entworfen von Hans Hofmann, dessen Schüler Walter Rüegg leitete die Bauarbeiten, für die Inneneinrichtung war Robert Haussmann verantwortlich. Bei seiner Eröffnung 1963 galt der Bau architektonisch als eines der wichtigsten Schweizer Botschaftsgebäude. Neben Essays zu Entstehung und Renovation sind vor allem die historischen Baustellenbilder von Walter Rüegg aufschlussreich. Die Eleganz des Baus lässt sich anhand der Schnitte in der Mitte der Publika­tion erahnen.

CIAMs Ideen in Marokko

Fast den gleichen Zeitraum behandelt das zweite Buch; dabei spannt es einen geografischen Bogen von Indien nach Marokko. Es wirft einen Blick auf zwei unterschiedliche, aber in jeder Hinsicht moderne geplante Städte: Chandigarh und Casablanca. Beide Orte spielen eine wichtige Rolle in der Neudefinition der modernen Stadt des 20. Jahrhunderts. Der Franzose Michel Ecochard und sein Team entwickelten nach dem Zweiten Weltkrieg einen Masterplan für Casablanca. Er sollte die gewachsene Struktur der mittelalterlichen Stadt in eine moderne Metropole transformieren. Realisierte Beispiele der «Cité Horizon­tale» und der «Cité Verticale» im Zusammenhang mit dem vom CIAM propagierten «Grid» sind im Buch anhand zahlreicher Luftaufnahmen dokumentiert. Der Schweizer Architekt André Studer leitete die Ausführung der Bauten. 

Das Buch wirft einen nuancierten Blick auf die Geschichte der modernen Stadt und die Zusammenhänge zwischen lokalem Wissen und importierten Ideen. Ob die Städte nur europäischen Architekturidealen entsprachen oder auch regionalen Bedürfnissen entgegenkamen, wurde von den Autoren nicht untersucht. Einmal mehr drängt sich die Vermutung auf, dass Kolonien Übungsfelder für Ideen der europäischen Architekturavantgarde waren: Frei konnte realisiert werden, was in Europa durch Baugesetze und politische Rahmenbedingungen nur eingeschränkt möglich war. 

Historische Fotos, Briefe und Pläne dokumentieren den Enthusiasmus der Protagonisten jener Zeit. Lebensläufe der Architekten, die in Casablanca und Chandigarh gebaut haben, geben Einblick in persönliche Geschichten. Zeitgenössische Fotos von Takashi Homma und Yto Barrada zeigen den heutigen Zustand der Bauten.

Beide Bücher bieten Gelegenheit, über vergangene, aussereuropäische Verbindungen der Schweiz nachzudenken – Gründe, dies zu tun, gibt es angesichts unserer heutigen globalisierten Baukultur mindestens so viele wie zur Zeit der Entkolonialisierung. 

Magazine

Verwandte Beiträge